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Das verschwundene Kind

Das verschwundene Kind

Titel: Das verschwundene Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Bezler
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Das war ein Tag vor dem Unfall gewesen.
    »Nimm sie in den Arm!«, befahl Veronika Kling.
    Er hob die Kleine hoch. Sie sah ihn verwundert an. Mal war sie ein Baby, mal ein Kleinkind, ein Schulkind. Er kitzelte sie am Bauch. Sie wand sich glucksend in seinen Armen.
    »Trag sie fort. Weit fort«, forderte sie. »Dort ist ein großes Nest aus Blumen. Leg sie dort hinein. Sie will schlafen. Lass sie!«
    Er tat wie geheißen. In einer Art Zeitlupe sah er die Bilder vor sich. Da war wirklich ein Vogelnest mit Blüten am Rand. Sie lag darin eingerollt wie ein Embryo, winzig im Gewirr aus Zweigen und Blättern.
    »Lass sie!«, hörte er wieder ihre Stimme. Sie vermischte sich mit der Stimme des Arztes damals. »Wir können nichts mehr tun.« Dann wieder die andere Stimme in ihrem unerbittlichen Befehlston: »Lass sie los und geh!«
    Er wollte nicht gehen. Er wollte sie dort nicht zurücklassen.
    »Du musst gehen und darfst dich nicht umdrehen. Es ist ein Abschied, den du annehmen musst. Und es ist gut.«
    Die Yang-Hand kreiste wieder. Stephan keuchte in die Unterlage. Seine Augen waren nass. Er fühlte sich erschöpft wie nach einem langen Lauf.
    Wie aus einem Nebel hörte er sie gedämpft sagen: »Und bedenke! Ein Kind gehabt zu haben ist besser, als wenn es nie geboren worden wäre!«
    Es folgten zeitlose Momente, in denen er nur noch das Meer hörte. Dann spürte er wieder die Hand knapp unterhalb des Nackens. »Ich setze jetzt noch ein bisschen weiter oben an. Dort ist der Bereich für die Lunge. Du musst atmen, tief und ruhig atmen. Dein Rücken ist Yang. Jetzt möchte ich die Meridiane an deinem Bauch aufsuchen, deine Hara-Zonen, denn die sind Yin. Würdest du dich bitte auf den Rücken drehen?«
    Er wandte sich um und stützte sich auf den Ellbogen ab. Sie kniete auf der Matte neben ihm. Ihre Hände lagen mit den Handflächen nach oben neben ihr. Ruhig hielt sie seinem Blick stand. Sie saß da wie eine Buddha-Statue. Glaubte sie eigentlich selbst, was sie erzählte? Brauchte sie das alles als eine Art Eigentherapie? Eigentlich war er hergekommen, um etwas über ihr Leben und über ihren Mann zu erfahren. Nun hatte sie es geschafft, in Stephans tiefste Abgründe zu sehen, ohne auch nur im Geringsten etwas von sich preiszugeben. Er brauchte es nicht mehr zu versuchen. Um eine wie sie aus der Reserve zu locken, musste man sich etwas anderes einfallen lassen.
    »Ich denke, es reicht für heute!«, sagte er in die Stille hinein.
    »Hast du denn eine Vorstellung von Shiatsu entwickeln können?«, fragte sie leise.
    »Tja, es war …« Wie sollte er ihr das sagen? Es hatte ihn verwirrt. Es hatte ihn mit Seiten von sich selbst konfrontiert, die ihn zutiefst beunruhigten. Sie hatte ihn einerseits aus dem Takt gebracht, und andererseits fühlte er irgendwo in der Tiefe einen kleinen Ruhekeim wachsen. Er strich sich mit der Hand über den Nacken und sagte: »Es ist besser geworden.«
    Dann erhob er sich steifbeinig und griff nach seinem Hemd. Etwas in ihm wollte jetzt nur noch weg. Als er draußen im Flur ankam, stand bereits Jutta Sauer in der Tür zu ihrem Behandlungszimmer. Wie ihr Sohn hatte sie borstiges, rotblondes Haar und eine zarte Haut mit Sommersprossen. Die schwarze Hornbrille hob sich in hartem Kontrast ab und betonte die Strenge des knochigen Gesichtes. Die Sauer trug nicht nur einen weißen Kittel, sondern lächelte ihn auch noch an wie eine Krankenschwester. Er war sich plötzlich sicher, dass er auch von ihr keine brauchbaren Informationen erhalten würde. Zu cool, zu kontrolliert waren diese Frauen. Mission gescheitert, also abbrechen, dachte er. Von irgendwoher hörte er Wasserrauschen. Hatte diese Jutta Sauer statt Meer die Niagarafälle in ihrem Zimmer aufgelegt? In seinem Rücken wurde eine Tür geöffnet. Das Rauschen wurde lauter, Stephan wandte sich um. Florian Sauer verließ die Toilette. Einen Augenblick standen sie einander gegenüber wie in der Tanzstunde. Jeder suchte im Gesicht des anderen nach einer Reaktion. In Florian Sauer kam zuerst Bewegung. Er nickte Stephan kurz mit ausdruckslosem Gesicht zu, dann lief er an ihm vorbei.
    »Hast du noch Brötchen da, Mamutschka?«, fragte der junge Mann seine Mutter.
    »In der Küche«, antwortete diese, und Florian verschwand in einem anderen Raum.
    »Wollen wir jetzt?«, fragte Schwester Mamutschka. Stephan schaute zwischen der Kling und der Sauer hin und her. Beide lehnten mit verschränkten Armen an ihren Türrahmen. Das waren Signale der gefühlten

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