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Das verschwundene Kind

Das verschwundene Kind

Titel: Das verschwundene Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Bezler
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zum Osten hinaus. Der Blick nach Osten beruhigt. Bitte den Rücken durchstrecken und hinaussehen«, leierte sie. Der Blick auf die schäbigen Häuserfronten war alles andere als erfreulich. Sie wollte, dass er mit beiden Händen die Apan-Mudra bildete. Er sollte Ring- und Mittelfinger gegen den Daumen pressen und Zeigefinger und kleinen Finger abspreizen. Sie bog ihm die Finger zurecht. Während sie seine Hände berührte, sagte sie: »Ich spüre deutliche Abwehr und habe Zweifel, ob es wirklich Ihr Anliegen ist, sich mit mir auf Shiatsu einzulassen, oder ob Sie eigentlich aus einem ganz anderen Grund gekommen sind.«
    Volltreffer! Der konnte man so leicht nichts vormachen. Also Vorsicht! Er versuchte ein unschuldiges Grinsen. »Nein, aus keinem anderen Grund! Es ist wirklich, weil ich da oben …« Er griff sich in den Nacken.
    »Schscht«, zischte sie wieder. In ihrem Gesicht stand das blanke Misstrauen. In den folgenden fünf Minuten, die für ihn eine gefühlte Stunde waren, saßen sie wieder im Schneidersitz nebeneinander und hielten die Apan-Mudra über den Knien.
    »Die Apan-Mudra ist eine besondere Haltung. Sie schenkt Gelassenheit, Zuversicht, innere Harmonie und macht Mut, Herausforderungen anzunehmen«, erklärte sie. Jetzt sollte er sich nach ihrer Anweisung in einer anderen Haltung bewusst entspannen. Es gelang ihm nur mäßig, weil sein lädiertes Knie schmerzhaft protestierte. »Aufstehen!«, sagte sie nach einer Weile zu seiner Erleichterung.
    Er streckte die Gliedmaßen und schüttelte sie aus, wie er das vom Fußballtraining kannte, was sie mit unwilliger Miene geschehen ließ.
    »Fühlen Sie sich denn jetzt eher bereit für Shiatsu?«, fragte sie.
    »War das eben noch kein Shiatsu?«
    Sie schüttelte den Kopf. »Das war Yoga. Zu meiner Philosophie gehört es, die verschiedenen Techniken zu mischen, um ein optimales Ergebnis zu erzielen. Auch bei Shiatsu gibt es unterschiedliche Schulen. Ich nehme Elemente aus allen.«
    »Aha«, sagte er.
    »Aber allen Richtungen ist es gemeinsam, dass unabdingbar eine energetische Beziehung zwischen Therapeuten und Patienten aufgebaut werden muss.«
    »Aha«, wiederholte er.
    »Deshalb sollten wir uns duzen«, erklärte sie, und ohne eine Reaktion von ihm abzuwarten, fuhr sie fort: »Du solltest jetzt deine Kleider ausziehen!«
    Er wurde blass. »Wie? Alle?«
    Sie blieb völlig ungerührt. »Nach Namikoshi alle. Masunaga vertritt die Meinung, leichte Bekleidung sei erlaubt. Ich bin der Meinung: So wenig wie möglich.«
    »Sie meinen also, ich kann mir aussuchen, wie viel ich ausziehe?«
    »Du«, korrigierte sie. Sie trat einen Schritt zum Fenster und betätigte dort einen Schalter. Mit sanftem Brummen schob sich bedrohlich ein Außenrollo vor das Fenster und verwandelte den Raum in eine dämmerige Höhle. Er zog sein Hemd aus. Sie wartete. Er blieb tatenlos stehen. Sie zuckte mit den Schultern und deutete auf die Matte. »Leg dich in einer möglichst entspannten Position auf den Bauch. Wir fangen mit dem Rücken an.«
    Er legte sich hin. Entspannt ging nicht. Er musste den Kopf seitlich drehen, um atmen zu können. Er hatte keine Idee, wie es eine entspannte Position für seine Arme geben sollte, und streckte sie seitlich neben dem Körper aus. Unter den Schulterblättern knirschte etwas. Dazu hörte er, dass die Kling sich an den Schubladen der Kommode zu schaffen machte.
    »Ich wärme nur meine Hände an«, säuselte sie. Die Schublade wurde geschlossen. Plötzlich hörte er ein helles Piepen, dann ein knisterndes und schäumendes Geräusch. Erschrocken schaute er auf. Das Geräusch kam oben von der Decke. Jetzt piepte es wieder und dann Grrrrrsch, Grrrrrrsch, Platsch, Kiu, Piep. Er entdeckte schemenhaft die Umrisse eines kleinen Kastens in der Ecke ganz oben. Hoffentlich war das nur ein Lautsprecher und nicht auch noch eine Kamera!
    »Meeresrauschen«, erklärte sie, »und Möwen. Ich kann auch Walgesänge oder Vogelgezwitscher auflegen. Ist dir das lieber?«
    »Nein, Meer ist schon okay«, sagte er gnädig und atmete bebend aus. Er legte sich wieder hin, diesmal kreuzte er allerdings die Arme unter dem Kinn.
    »Schließ die Augen«, gurrte sie ungewöhnlich sanft. Er schloss die Augen und spürte gleichzeitig einen warmen Druck in der Mitte seines Rückens. Das war angenehm, zugegeben. Etwas weiter weg davon wurde es ebenfalls warm. »Das ist meine zweite Hand, die Yin-Hand. Sie stützt nur. Die andere Hand, die aktiv ist, ist die Yang-Hand. Spürst du

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