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Das verschwundene Kind

Das verschwundene Kind

Titel: Das verschwundene Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Bezler
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es?«
    Was, um alles in der Welt, sollte er spüren? Er lag wie eine gestrandete Flunder auf einem genoppten Futon, der ihn sehr an die unbequemen Luftmatratzen seiner Kindheit erinnerte. Dazu Meeresrauschen. Strandfeeling. Offenbach am Meer, auch das noch. Sie erhöhte den Druck ihrer Yang-Hand und presste seinen Unterleib in den Futon.
    »Und jetzt?«, fragte sie.
    »Autsch«, sagte er.
    Die Yang-Hand gab etwas nach. »Ich kann dein Qi spüren. Es ist eindeutig aktiviert, aber du sperrst dich zu sehr. Lass dich ein! Finde deine Mitte!«, schnurrte sie.
    Die Möwen fuhren mit ihrem Gekreisch dazwischen. Meeresrauschen. Wasser. Der Druck auf den Unterbauch wurde unangenehm.
    »Hier ist der Meridian für deine inneren Organe, die Nieren, die Blase«, leierte sie wie der Papst beim urbi et orbi.
    Blase
war das Stichwort gewesen. Konnte er jetzt einfach unterbrechen und sagen, dass er …? Unmöglich! Er hatte noch nicht einen Bruchteil seiner Themen mit ihr abgehandelt. Plötzlich hörte er den gedämpften Signalton eines Handys, das eine SMS meldete. Er zuckte zusammen. Sein Handy! Es war draußen in der Jacke.
    »Nicht doch«, flüsterte sie. »Entspannen! Der Alltag ist jetzt vergessen!« Ihre Yang-Hand lag mittlerweile etwas weiter oben.
    »Der Magen«, erklärte sie. »Im Shiatsu geht es hier nicht nur um die Nahrungsverarbeitung, sondern auch um die geistige Verdauung. Oh, hier ist dein Qi ganz schwach. Du hast zu viel Energie in ein unlösbares Problem fließen lassen.« Sie drückte.
    »Der momentane Fall«, erklärte er. »Wir hängen da ziemlich fest.« Es dauerte einen Augenblick, bis sie antwortete. »Meint ihr, dass sich das noch einmal ändert?«
    »Wir ermitteln in alle Richtungen. Irgendwann kommt der Durchbruch.« Ihre Yang-Hand drückte und ließ dann wieder locker. Irgendetwas war in seinem Rücken geschehen! Sie setzte weiter oben zwischen den Schulterblättern erneut an. Da war genau diese Stelle, an der es manchmal so stach und zog. Unter ihrem Druck schienen sich die Muskelstränge zunächst dagegen aufzubäumen, doch dann gaben sie ein wenig nach.
    »Das ist der Bereich für das Herz. Du hast einen schweren Felsen darauf liegen. Dein Qi ist hier blockiert.« Ihr Handballen massierte in leichten, kreisenden Bewegungen, so als würde sie Sonnencreme verteilen. Das Meer rauschte. Jetzt sah er die schaumigen Wellen, die in langen Zungen an einem flachen Sandstrand ausliefen.
    »Hast du eine Frau?«, fragte sie ihn von weit her.
    In seinem Brustkorb hörte er seine Antwort dröhnen. Marens lächelndes Gesicht erschien vor ihm.
    »Ja.«
    Zarte Finger tasteten über die Haut. Die Stimme raunte: »Deine Frau ist nicht die Ursache für diese Blockade. Es ist etwas Massives, das schon sehr lange besteht. Ich werde jetzt etwas tiefer gehen, melde dich, sobald es schmerzt.« Jetzt schien sie sich mit ihrem ganzen Körpergewicht auf ihn zu lehnen. Er bäumte sich dagegen auf. Sie ließ wieder los und legte die Yin-Hand ruhig auf die gepeinigte Region. Er sank zusammen.
    »Hast du Kinder?«
    Er versuchte, gegen etwas anzuatmen, das seine Brust eng umschloss. Das rauschende Meer. Er sah sich mit ihr am Strand. Sie warf ihren roten Ball in die Wellen und tapste hinterher. Drei Jahre musste sie damals alt gewesen sein. Er umfasste ihre weiche Kinderhand und lief mit ihr durch das flache Wasser hinter dem Ball her. Sie sah ihn an, kicherte voller Vertrauen und Zuversicht. Tausend blonde Löckchen quollen unter dem weißen Sonnenhut hervor.
    »Keine Kinder?« Da war wieder der Eisenreif um seine Brust. Er versuchte, gegen den Widerstand zu atmen. Jemand drückte gegen den Reif, verbog ihn. Ein wenig Luft zu holen war möglich. »Doch. Jenny, aber sie ist tot. Vom Auto überfahren«, stieß er hervor.
    Der Meeresstrand verschwand, als hätte man einen Vorhang fortgezogen. Er erschrak. So freimütig hatte er das noch nie jemandem erzählt. Wie kam er dazu? Ausgerechnet auch noch dieser Kling! Er wollte aufspringen, doch sie drückte ihn sanft nach unten.
    »Genau das ist die Blockade. Du hast dich nicht der Trauerarbeit gestellt und nur negative Energien produziert. Du musst es endlich annehmen und dich darauf einlassen. Denk an sie. Jetzt!«
    Diese Stimme hatte etwas Herrisches und war dennoch sanft und schmelzend. Er konnte sich nicht dagegen wehren, wollte es auch plötzlich nicht mehr. Er sah Jennifer, wie sie am großen Tisch im Wohnzimmer mit ihm saß und konzentriert in ihr Schulheft schrieb. Hausaufgaben.

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