Das verschwundene Mädchen: Roman (German Edition)
Richtung. Die Brücke lag nicht weit vom Restaurant entfernt.
Ich guckte erstaunt. Nun begann ich, mich doch zu wun dern.
Sie auch. »Wir konnten uns nicht denken, wo der hinwollte. Dort wohnt ja keiner außer dem alten Mann unten an der Straße vom Mirror Pond. Ab da ist nur noch Schotterstraße. Wir sind die noch nie gefahren.«
Am Brokedown House vorbei wand sie sich etliche Meilen, wurde breiter und verengte sich dann wieder, bis sie hinter Spirit Lake kaum mehr als ein Trampelpfad war.
Ron meinte: »Von der Schießerei dort hast du natürlich gehört.« Er deutete auf einen Punkt gleich hinter der Brücke. »Na, das war ja was.« Er erschauerte fast vor wohligem Entzücken.
Gaby flüsterte: »Da war bei uns viel mehr los als sonst. Manche Leute sind schon ein bisschen makaber.« Er machte eine abwehrende Handbewegung. »Zitier mich aber nicht.«
Sie meinten den Mord an Fern Queen. »Keine Sorge«, sagte ich. »Dann muss er aber doch auf dem Rückweg hier wieder vorbeigekommen sein. Nicht wahr?«
»Höchstens nachdem wir schon dichtgemacht hatten, und das war erst so um eins, halb zwei.«
Ron biss sich auf die Lippe. »Hm, da ist doch dieser Alte … Ob der vielleicht ein Freund oder irgendein Verwandter ist?« Er klemmte sich die Speisekarten unter den anderen Arm. »Da komm ich erst jetzt drauf, dass der Wagen ja gar nicht zurückgekommen ist.«
»Vielleicht haben Sie ihn nur nicht gesehen, bei den vielen Gästen.«
»Gestern Abend nicht, da waren bloß sechs oder acht Leute da …« Er dachte nach. »Der Fasan war ausgegangen, das weiß ich noch.«
Meine Mutter würde sich wahrscheinlich auch so erinnern: dass irgendetwas ausgegangen war. Ich sagte: »Ich muss jetzt aber los.«
»Wie bist du denn hergekommen?«
»Per Taxi.«
Gaby wandte sich um. »Ich ruf dir eins.«
»Jetzt noch nicht, bitte. Ich gehe noch rüber zu Mr Butternut.«
Verwundert hoben sie die Augenbrauen. Sie hätten Zwillinge sein können, so ähnlich sahen sie einander.
»Der Alte«, sagte ich. »Der heißt so.« Sie waren schon jahrelang hier und wussten das nicht? Wieder mal typisch Restaurantgewerbe.
Sie schüttelten die Köpfe. Ron sagte: »Na, du bist aber wacker!«
Was auch immer das heißen mochte, ich quittierte es mit einem Lächeln und verließ den nach Hummer Thermidor und Fasan duftenden Raum.
Ich überquerte die gut zehn Meter lange White’s Bridge, wo Fern Queen erschossen worden war, und ging den Schotterweg entlang bis zu Mr Butternuts Häuschen. Eigentlich war es eher eine Hütte mit einem großen Wohnraum, Küche und Schlafzimmer.
Drinnen war alles lichterloh erleuchtet, obwohl es draußen taghell war. Eine kugelrunde Verandaleuchte hing direkt über der Tür, umschwirrt von den gleichen Nachtfaltern wie beim Hotel. Weil er auf mein Klopfen nicht sofort kam, rief ich: »Mr Butternut! Ich bin’s, Emma Graham!« Ich hörte ihn zwar antworten, doch es kam von weither, dann war ein Scharren zu vernehmen, bevor er schließlich die Tür aufzog.
»Ei ei, wen seh ich denn da?« Er klang erfreut.
Für ihn war sicher jeder Besuch eine willkommene Abwechslung. Ich glaube nicht, dass er noch irgendwelche Verwandten hatte, und mutterseelenallein hier draußen zu hocken war bestimmt nicht leicht für ihn.
»Hallo, Mr Butternut. Darf ich reinkommen?«
»Ja, klar. Willst du einen Kakao?«
Als ich gleich nach Fern Queens Ermordung schon mal hier gewesen war, hatte es auch einen gegeben. »Okay. Ich seh, Sie haben hier ein schönes Feuerchen im Ofen.«
Es war so ein uralter gusseiserner, in dem das Feuer so heiß war, dass die Luft fast zu knistern schien.
»Na komm, setz dich hin.«
Dicht vor dem Ofen standen zwei Sessel, und ich hockte mich bei einem erst auf die Kante und dann so tief hinein, wie ich konnte, weg von der Hitze. Alte Leute frieren wohl leicht. »Übrigens, haben Sie gestern Abend hier in der Gegend einen roten Sportwagen bemerkt?«
»Aber ja.« Er klapperte mit den Töpfen herum.
Ich richtete mich auf, überrascht, dass ich schon wieder ins Schwarze getroffen hatte. Ich wartete ab, dass er fortfuhr, doch es kam nichts. Er stellte bloß einen kleinen Topf hin und holte dann Milch aus dem Kühlschrank.
»Und …? Ist er hier vorbeigekommen?«
»Und ob. Meine Zeiten, wieso irgendein Blödmann mit seinem schicken Schlitten auf dieser hinterletzten Straße fahren muss, kapier ich nicht. Marshmallows hab ich aber keine.« Er guckte in eine beinahe leere Plastiktüte, in der ich aber ein paar
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