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Das verschwundene Mädchen: Roman (German Edition)

Das verschwundene Mädchen: Roman (German Edition)

Titel: Das verschwundene Mädchen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martha Grimes
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nie eins gesehen. Ich rechnete es mir aus. Vor zwanzig Jahren, als Rose umgebracht wurde, wäre er etwa zwei- oder dreiundzwanzig gewesen, wenn Mrs Souder recht hatte. Ich überlegte. »Er muss sechzehn oder siebzehn Jahre jünger als Rose gewesen sein.«
    »Ja, so in etwa. Rose war ja keine Devereau, außer dadurch, dass ihre Mutter einen Devereau geheiratet hat. Sie war eine Souder. Alice Souder war ihre Mutter, und die war drei Mal verheiratet: erst mit einem Souder und dann mit einem Slade. Der bekam das Sorgerecht für Morris, was schon eine Überraschung war, denn er war ja Trinker. Dann heiratete sie den alten Mr Devereau. Der Daddy von Rose war Albert Souder, ein Cousin meines Mannes.«
    Mir schwirrte der Kopf von all diesen verwirrenden Verwandtschaftsverhältnissen.
    Sie fuhr fort: »Ich glaube, Rose sah in Morris so etwas wie einen kleinen Bruder. Er hat sie vergöttert.«
    Komisch, aber während sie in Erinnerungen schwelgte, hatte ihr Zucken ganz aufgehört, als hätte das Zurückgehen in die Zeit, als sie jung war, eine beruhigende Wirkung auf sie.
    »Ja.« Sie schwelgte weiter in dieser Erinnerung. »Irgendwie hatte Morris einen Narren an ihr gefressen.« Sie schüttelte den Kopf, doch es war ein richtiges Schütteln, kein Zucken. »Das ist aber schon lange her. Inzwischen ist ja viel geschehen. Das meiste war schlimm.«
    Die dünne, hauchzarte Stimme von Mr Souder rief sie nach hinten auf die andere Seite des Perlenvorhangs. Sie ging und war bald von den Schatten aufgesogen. Draußen war helllichter Tag, doch hier drinnen kam es einem vor wie Nacht.
    Sie hatte vergessen, das Geld für meinen Sodadrink zu kassieren, und ich machte meine Börse auf und kramte einen Vierteldollar und einen Zehner hervor. Dabei fiel der Zettel mit dem Gedicht heraus. Ich faltete ihn auf:
    Dies sagen: Leb wohl an der Dunkelheit Rand …
    Rasch stopfte ich das Papierstückchen wieder in meine Geldbörse, als würden die Wörter, wenn sie zu lange auf dem marmornen Ladentisch lägen, sich in der Kälte den Tod holen.
    Als ich schließlich die Treppe zur Zeitungsredaktion hinaufstieg, war die Wut, die sich hinter den Schokosodadrink zurückgezogen hatte, wieder da.
    Ich erzählte Mr Gumbrel, dass Morris Slade festgenommen worden war, doch er wusste bereits Bescheid.
    Er schüttelte den Kopf. »Eins musst du zugeben, Emma: Die Sachlage ist doch ziemlich eindeutig.«
    Er hatte zugehört und über das, was ich ihm gesagt hatte, nachgedacht. Dabei hatte er sich mit den Fingern die Schläfen massiert, als ob die ganze Geschichte für seine Lokalzeitung viel zu gewaltig wäre.
    »Was ist, wenn die wahre Geschichte nie gehört wird? Was ist, wenn Ihre Leserschaft nie erfährt, dass Morris Slade bloß in Notwehr geschossen hat oder dass es ein Unfall war?«
    Er stieß einen tiefen Seufzer aus. »Unseren Lesern wird schon die Spucke wegbleiben, wenn sie erfahren, dass F-a-y in Wirklichkeit F-e-y geschrieben wird und ein Junge, kein Mädchen war. Das reicht als Überraschung. Und dann ist da ja auch noch deine nächste Folge. Hast du die schon fertig? Ich will sie in die Ausgabe nächste Woche setzen.«
    »Ich feile gerade dran.« Um jegliches weitere Gespräch über meinen nächsten Artikel zu unterbinden, stand ich auf und ging, um mich ans Feilen zu machen.
    Als ich das Redaktionsbüro verlassen hatte, war es nach vier, und ich wollte noch mit Dwayne reden, obwohl der mir wahrscheinlich wieder dumm kommen würde. Trotzdem war er ein, man könnte sagen, guter Resonanzboden, sogar wenn er unter einem Auto lag.
    Draußen vor Axels Taxistand hockte Delbert untätig in seinem leeren Taxi herum.
    »Wartest du auf einen Fahrgast?«, fragte ich ihn durchs Fenster.
    »Hä? Nein, Madam. Ich sitz hier bloß rum und denk nach.«
    Ich stieg ein und sagte, er solle mich zu Slaws Autowerkstatt am Highway 219 fahren.
    »Meinst du, ich weiß nich, wo Slaws Werkstatt is? Hab ich dich da nich schon mal abgesetzt? Ich versteh gar nich, wieso du da in der Werkstatt rumhängen willst …«
    Ich rutschte nach unten und sah zu, wie die Welt an mir vorüberflog.
    »Du bist ja wirklich eine tolle Hilfe«, meinte ich sarkastisch zu Dwayne, nachdem ich ihm das Geschehene berichtet hatte und der mit seinem Schraubenschlüssel bloß einfach bäng-bäng-bäng unverdrossen weiterklopfte.
    »Als ob du die bräuchtest.« Verzerrt drang seine Stimme unter dem Pick-up hervor. »Du und deine unbändige Fantasie. «
    »Meine was?« Keine Antwort. »Also, was denkst du

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