Das verschwundene Mädchen: Roman (German Edition)
außer Acht lassen. Wieso ein Mann wie Morris Slade eine Schrotflinte haben sollte zum Beispiel? Der kommt mir nämlich nicht vor wie ein Schrotflintentyp.«
Der Sheriff setzte sich seine dunkle Brille wieder auf wie jemand, der sich zum Zeichen, dass er gleich gehen will, den Hut zurechtrückte. Er sagte: »Du hast nicht den blassesten Dunst, Maud. Wirklich nicht.«
Dann wandte er sich um und ging hinaus, ohne den Abschiedsgruß der Leute an der Theke oder den von Wanda zu erwidern. Das weiß ich, weil ich mich seitlich hinauslehnte und ihm nachsah.
Etwas Schweres lag in der Luft.
»Ich sollte vielleicht lieber nicht so viel reden«, sagte ich.
Maud schaute herüber. »Schlau dahergeredet hast nicht du, sondern ich. Ich weiß auch nicht, warum ich manchmal nicht einfach die Klappe halten kann.«
»Machen die von der Bundespolizei denn gar nichts? Die waren doch vor Ort.«
»Schon, aber …«
»Maud!«
Das Geschrei kam von Shirl. Vielleicht war das auch gut so. So konnte Maud gehen.
Ich wünschte, es gäbe etwas, weswegen ich auch gehen konnte.
56. KAPITEL
Ich war so in Gedanken an jemand anders versunken, dass dadurch die Wut über Morris Slades Verhaftung überlagert wurde. Denn ich wusste, da war noch jemand anders.
Während ich überlegte, wer dieser andere Jemand wohl sein mochte, wäre ich beinahe an Souders Apotheke vorbeigegangen. Als ein Teil meines Gehirns die Schaufensterauslage mit den langen Handschuhen, dem Parfum und dem Puder aber registrierte, ging ich ein paar Schritte zurück und trat ein.
Im Sommer war Souder der kühlste Ort in La Porte, mit den schwärzesten Schatten, dem kältesten Marmor, den luftigsten Deckenventilatoren, den besten Eiskcremesodas. Diesmal war ich allerdings nicht deswegen hergekommen.
Ich ging nach hinten, um zu schauen, wo Mrs Souder steckte, und gerade als ich das Glöckchen läuten wollte, kam sie heraus. Der Perlenvorhang wirbelte um ihre große, dünne Gestalt, und die Perlen machten ein leises Klappergeräusch.
Es überraschte mich sehr, dass sie fast froh schien, mich zu sehen.
»Ach Emma. Na, wie geht’s dir denn? Du willst bestimmt ein Eiscremesoda? Na, komm.«
Offensichtlich hatte diese ganze neue Freundlichkeit mit meinen Artikeln im Conservative zu tun, denn sie überschüttete mich mit Komplimenten, während sie den Schokoladensirup in ein geriffeltes Glas gab. Dabei zuckte ihr Kopf wie an den Schnüren eines Puppenspielers, denn Mrs Souder hatte ein »Gebrechen«. Keine Ahnung, worum es sich dabei handelte.
Sie nannte meinen Artikel eine »hochinteressante Übersicht«. Nachdem sie zwei Kugeln Eiscreme hinzugefügt hatte, verwirbelte sie das Ganze mit einer ordentlichen Portion Sprudelwasser. Das schien ihr richtig Spaß zu machen, vermutlich konnte sie dadurch Dampf ablassen. Ein Schlagsahnekringel krönte das Soda, und dann rückte sie mit dem heraus, was sie wirklich auf dem Herzen hatte:
»Ich kann dir sagen, also, wir waren ja total geschockt über das, was passiert ist! Und du, du musst dich ja zu Tode geängstigt haben!«
»O ja. Gefunden hab ihn aber eigentlich nicht ich, sondern Mr Butternut. Der wohnt auch da draußen an der Landstraße.« Wieso ich so tat, als hätte ich eine weniger wichtige Rolle gespielt, weiß ich auch nicht. Vielleicht lag es daran, dass ich nicht die Erste sein wollte, die Ralph Diggs tot gesehen hatte. Vielleicht würde ich mich dann weniger schuldig fühlen oder so.
Sie redete ein Weilchen über die Slades und die Souders und die Devereaus. Dabei rauchte sie eine Zigarette und lehnte sich gegen den großen Spiegel, der über die ganze Länge der Theke ging. Ich war überrascht, dass sie rauchte.
»Weißt du, dass Rose eine von uns Souders war?«, fragte sie mich.
Ich nickte. »Das hat mir meine Großtante Aurora erzählt.«
Ihre dünn gestrichelten Augenbrauen gingen hoch. »Aurora Paradise? Lebt sie denn noch?«
»Heute Morgen jedenfalls schon.« Ich leckte meinen Eislöffel ab. »Die sahen sich sehr ähnlich, Rose Queen und Morris Slade.«
Mrs Souder drückte ihre Zigarette aus und begann die Sodamaschine abzuwischen, die sowieso schon blitzblank poliert war. »Ähnlich sahen sie sich, das ist wirklich wahr. Er war natürlich viel jünger.«
»Wie alt wäre er denn jetzt? So etwa in den Vierzigern?«
Sie nickte. »Er ist ungefähr so alt wie unsere Älteste, und die ist dreiundvierzig.«
Ich wusste überhaupt nicht, dass die Souders eine »Älteste« hatten. Von ihren Kindern hatte ich noch
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