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Das verschwundene Mädchen: Roman (German Edition)

Das verschwundene Mädchen: Roman (German Edition)

Titel: Das verschwundene Mädchen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martha Grimes
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etwas weiter unten entlang dem großen Gemüsegarten verlief. Manchmal staunte ich richtig, wie groß das Gelände des Hotels Paradise war, wie eine ganz eigene kleine Welt, die es in vieler Hinsicht ja wohl auch war. Ob ich noch staunen würde, wenn ich alt war, dreißig oder fünfunddreißig etwa, fragte ich mich, oder ob Staunen bloß was für Kinder war.
    Auf der etwa halben Meile Fußmarsch konnte ich nicht umhin, ein paarmal hinter mich zu blicken, ob mir vielleicht jemand oder etwas folgte. Keine Ahnung, an was oder an wen ich da dachte.
    Am oberen Ende des Sees angekommen, ging ich bis zum Holzplankenweg, der zum Anlegesteg hinausreichte. Auf den Steg selbst wollte ich nicht, dazu konnte ich mich nicht überwinden. Zwischen üppigem Grün, das zu beiden Seiten der Straße so wucherte, dass es sich fast in der Mitte traf, ging ich weiter in Richtung Quelle.
    Hier war die Nische, wo der Blechbecher zum Trinken von Quellwasser aufbewahrt wurde. Bei dem Becher war ich unschlüssig: Einerseits war der Gedanke irgendwie romantisch, dass wir alle, die wir einander ja nicht kannten, aus demselben Becher tranken. Father Freeman würde es sicher höchst spirituell nennen.
    Andrerseits konnte ich aber auch nicht die Sache mit den Krankheiten aus dem Kopf kriegen, denn wer konnte schon wissen, ob die Leute gesund gewesen waren, die aus diesem Becher getrunken hatten. Ich hielt, wenn ich Wasser wollte, also einfach die Hände unter das Rohr, aus dem es floss. Sehr begeistert von dem Rohr war ich allerdings auch nicht, denn es sah ziemlich verrostet aus.
    Ich setzte mich hin und schaute zu, wie das Licht immer mehr aus dem Wald wich und es aussah, als würde es vom See aufgesogen, dessen Oberfläche davon schon ganz gläsern war. In der Ferne konnte ich eine Ecke des Devereau-Hauses sehen und dachte an das letzte Mal, als ich Ben Queen gesehen hatte.
    Ich stand von dem Mäuerchen auf und steuerte auf den Wald zu.
    Ben Queen kam um die Hausecke, in seinem langen leichten Mantel, wie ich sie in Westernfilmen im Orion schon gesehen hatte. Seinen breitkrempigen Hut hatte er tief ins Gesicht gezogen und trug ein Gewehr oder eine Schrotflinte bei sich. Was genau es war, wusste ich nicht, nur dass es genau so aussah wie das, mit dem er Isabel Devereau erschossen hatte, als die mich zwingen wollte, im Ruderboot zu bleiben und zu ertrinken.
    »Hallo, Emma.«
    Er knickte die Flinte ab, die er über dem Unterarm hielt, als hätte er soeben beschlossen, mich nicht zu erschießen.
    »Der Sheriff sucht Sie.« Das musste an Plauderei reichen.
    »Wie gehabt, he? Weiß er nicht, dass ich hier bin?«
    Ich schüttelte den Kopf. »Wundert mich auch.«
    »Ist doch gleich, ob hier oder sonst wo.« Er hielt die seitliche Fliegengittertür auf. »Möchtest du kurz reinkommen?«
    Ich ging hinein und warf einen Blick ins Wohnzimmer, während die Gittertür ruckelnd hinter mir zufiel. Dieselbe Schallplatte auf dem Plattenteller, dasselbe Notenheft auf dem Klavierbänkchen. Und ich hätte schwören können, da schwebten noch dieselben Staubpartikel im schwindenden Licht.
    Ich sank in einen Lehnsessel, der viel zu groß für mich war. Ich sah jünger und kleiner aus, zwergenhaft, dabei wollte ich älter und größer erscheinen. »Sie haben Morris Slade festgenommen.«
    Er hatte die Flinte in eine Ecke gestellt und betrachtete die Fotos an der Wand an. »Hm, kann man sich ja denken.« Er hielt den Finger an ein Bild der Schwestern Devereau, als wollte er sie zurechtrücken oder zum Schweigen bringen. Über Morris Slade sagte er nichts.
    »Die Waffe, die man gefunden hat, das war bloß eine kleine Handfeuerwaffe, nicht die, mit der Ralph Diggs getötet wurde. Das war nämlich ein Gewehr oder eine Schrotflinte.« Ich schaute zu der hinüber, die in der Ecke stand. »So wie Ihre.«
    Ben Queen wandte sich von dem Foto ab und lachte abrupt auf. »Nicht ›wie‹ meine. Es war meine.«
    Ich tat nicht einmal so, als wäre ich erschrocken. »Und wieso?«
    »Weil der verdammte Junge Morris Slade sonst erschossen hätte. Morris hatte keine Waffe.«
    Ich wartete ab. Meine Fragen kamen langsam, weil ich mir nicht sicher war, ob ich die Antworten hören wollte. Wenn ich die Antworten erfuhr, würde ich dann schreiben müssen – Ende … ? »Aber wieso waren Sie dort?«
    »Weil ich mir schon dachte, dass es Ärger geben würde. Morris hat mich drüben in Junction aufgesucht und mir erzählt, dass sie sich treffen wollten. Ich hab ihm geraten, es besser bleiben zu

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