Das verschwundene Mädchen: Roman (German Edition)
Ich glaube nicht, dass Ree-Jane dort schon mal war. Es war einfach kein Ort für sie, entlegen, eulenhaft, dicht bewaldet und keiner da, der ihre Schönheit bewundert hätte. Auch war dort ganz in der Nähe Fern Queen umgebracht worden, am Mirror Pond, und ich konnte mir nicht vorstellen, dass Ree-Jane zum Schauplatz eines Mordes ging, außer mit kompletter Polizei-Eskorte.
10. KAPITEL
Am nächsten Morgen war ich nach meinem Frühstück, bestehend aus Preiselbeer-Pfannkuchen mit Puderzucker und sirup umschwärmt (da war wieder Faulkner), drüben in Slaws Au towerkstatt.
Wenn es einen Menschen gab, mit dem man über Wahnsinn reden konnte, dann Dwayne, der bei Abel Slaw arbeitete. Dwayne war der William-Faulkner-Experte, was ich für einen Mechaniker etwas ungewöhnlich fand, doch die bloße Tatsache, dass den jemand las, würde einen hier in der Gegend schon zum Experten machen, weil das sonst keiner tat.
Slaws Autowerkstatt befand sich etwa eine Meile weiter unten am Highway, gegenüber vom Bahnhof. Über einen alten Bohlenweg nicht weit vom Hotel kam man an einigen Tennisplätzen vorbei dorthin. Der Weg verlief parallel zum Highway, und früher waren die Leute über den Bohlenweg zum Postamt, in den Lebensmittelladen geschlendert oder zu Jessies Restaurant, das so was Ähnliches war wie der Windy Run Diner.
Abel Slaws Angestellte waren Dwayne, der Meistermechaniker, sowie ein paar andere ganz gewöhnliche Mechaniker, die aber nie alle gleichzeitig da waren. Einer davon war Du-Da, der seinen merkwürdigen Namen von früher hatte, als er klein war und seine Mutter ihn immer so rief: »Du da! Rein mit dir!« Oder so ähnlich.
Ich schaute nach, ob Mr Slaw in seinem Büro war, war er aber nicht. Welche Erleichterung! Er mochte es nicht, wenn ich in die Werkstatt ging.
Du-Da lag unter einem Hebekran, sah mich und schwenkte seinen Schraubenschlüssel grüßend in meine Richtung. Unter einem anderen Auto, das nicht auf einer Hebebühne war, hörte ich es klirren und dachte mir schon, dass es Dwayne war. Den Wagen, so ein schickes ausländisches Modell, erkannte ich als den von Bubby Dubois, dem Chevrolethändler in La Porte. Ich würde lieber Du-Da heißen als Bubby. Man stelle sich vor, ein erwachsener Mann, der sich immer noch Bubby nennen lässt.
Harsche metallische Töne kamen unter Bubbys Auto hervor. Keine Ahnung, wieso Dwayne den Wagen nicht einfach auf die andere Hebebühne tat, aber nachdem er der Meistermechaniker war, hatte er vermutlich seine Gründe.
Ich stemmte mich auf den Stapel neuer Reifen hoch, um abzuwarten, bis Dwayne hervorgerollt kam. Während ich so dasaß, musste ich dran denken, wie gern ich dieses Klirren von Metall auf Metall und den Geruch von neuem Gummi mochte. Dann hörte ich auf mit der Selbstbetrachtung – in Pose, als ob sich sämtliche Fotografen heute bei Slaw versammelt hätten, um mich aufzunehmen, rutschte hinunter und kniete mich auf den Boden. Ich musste mich ganz tief hinunterkauern, bis ich unter Bubbys Auto gucken konnte, wo Dwayne auf seinem Rollwägelchen lag und da unten gerade etwas fest anzog. Von der Unterseite der Karosserie hing eine Arbeitslampe.
»Dwayne?«
Er wandte den Kopf von der Pritsche her und schüttelte ihn bedächtig und fragend. »Von allen Schnapsbuden auf der Welt latscht sie ausgerechnet in meine.«
Ich war mit der Wange jetzt auf dem Beton. Dwayne hatte seinen Schraubenschlüssel genommen, um irgendwas festzuziehen. Die Unterseite eines Autos besaß für mich zwar keinerlei Faszination, aber als er sich immer noch nicht hervorrollte, legte ich mich kurzerhand auf den ölverschmierten Boden und stützte den Kopf in die Hand.
»Dwayne«, sagte ich. »Glaubst du, ein kleines Kind« – das war jetzt das vierte Mal, dass ich mich der Kind-Kategorie zuordnete, diesmal sogar mit dem Zusatz »klein« – »könnte verrückt oder sogar geisteskrank werden?«
Die Geräusche verstummten. Er wandte den Kopf her und schaute mich wieder an. Selbst im Halbdunkel des Wagens sah er richtig gut aus. Ree-Jane war wahnsinnig verknallt in ihn. Er aber nicht in sie, wie ich erfreut anmerken kann. Vielleicht würde ich ihr gegenüber mal erwähnen, in meinem Leben gäbe es viele gutaussehende Männer – und mit wie vielen sie in ihrem denn aufwarten könne?
Da überraschte mich Dwayne, indem er sich unter dem Auto hervorrollte. »Meinst du den Kleinen da, den Sohn von der Spülerin?« Er stand auf und wischte sich die Hände an dem ölverschmierten Lappen ab,
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