Das verschwundene Mädchen: Roman (German Edition)
denn wohl?«
Ich schüttelte schulterzuckend den Kopf. Inzwischen hatte ich mich zurückgelehnt und schaute an die Decke. Wollte ich da vielleicht irgendwas ausblenden, fragte ich mich und dachte an das Haus der Devereaus auf der anderen Seeseite, das wie ein großes graues Schiff im Nebel zu schweben schien. Ich dachte an den dunstverhangenen Teich in der Nähe vom Belle Ruin, an den die Hirsche fast wie Traumbilder zum Trinken kamen. Ich dachte an das Mädchen. Dann sagte ich: »Manchmal frag ich mich: Wie merkt man den Unterschied, ob etwas wirklich echt ist oder nicht?«
Zwar rechnete ich nicht damit, dass Mrs Louderback eine abschließende Antwort hatte – also eine, die alle vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Probleme löste.
Ganz bestimmt rechnete ich aber nicht damit, dass sie sagte: »Vielleicht gar nicht.«
8. KAPITEL
Beim Hinausgehen vergaß ich, meine zwei Dollar Beitrag zu entrichten, was wahrscheinlich der Grund dafür war, dass Mrs Louderbacks Haushälterin oder was auch immer sie war, mir einen extrastrengen Blick zuwarf, obwohl sich an ihrem Gesicht der Unterschied zu ihren anderen Blicken nicht erkennen ließ.
Vielleicht hatte meine Hand, die nun die Dollarnoten befühlte, sie nicht loslassen wollen, weil Mrs Louderback mir nichts gesagt hatte, wodurch ich mich besser gefühlt hätte, und welchen Grund gab es sonst, jemanden zu bezahlen?
Auf der Straße stieß ich eine leere Nehi-Saftdose ein bisschen vor mir her und kickte sie dann an den Randstein, als ich ein Auto kommen sah. Es war ein butterblumengelbes Chevy-Cabrio, viel größer und schicker als das weiße von Ree-Jane, und chauffiert wurde es von Scarlett Bittinger. Die mochte ich, weil sie eine Riesenkonkurrenz für Ree-Jane war, die sie natürlich hasste.
Scarlett drückte auf die Hupe und winkte mir im Vorbeisausen zu. Es war nett, dass jemand in ihrem Alter mich nicht wie Luft behandelte. Um den Hals hatte sie einen leuchtend grünen Chiffonschal, der im Wind wehte, und als er aus dem Blickfeld geriet, stellte ich mir Scarlett in einer windigen Regennacht auf einer dunklen Autostraße vor, wie der Schal ihr übers Gesicht peitschte, ihr die Sicht nahm und der Wagen über eine Böschung fuhr, die weiße Leitplanke durchbrach und weg war.
Hoffentlich würde ihr das nicht passieren. Doch es gab mir die Idee zu einem Weihnachtsgeschenk für Ree-Jane: einen Chiffonschal. Ich würde ihr beschreiben, wie hübsch Scarlett in ihrem Schal ausgesehen hatte, am Steuer ihres gelben Cabrios.
Nachdem ich den Highway überquert hatte, ging ich die Auffahrt zum Hotel hoch, die hintere, und überlegte, was in der großen Garage wohl vor sich ging und ob sie Paul immer noch da drin hatten. Pauls Mutter, unsere Aushilfsspülerin, war ein bisschen langsam. Oft vergaß sie Paul einfach. Kein Wunder!
Ich ging außen um den Cocktailgarten herum, wo es aussah, als hätten die Baums und ihre Gäste dort ganz schön gehaust. Überall standen halb leere Gläser herum, waren zusammengeknüllte Servietten hingeschmissen. Auf dem Tisch stand eine abgefressene Vorspeisenplatte.
Durch Wandrisse in der großen Garage konnte ich Licht sehen und ging hinüber. Mills Klavierspiel war in vollem Gange, und ich hörte lautes Gelächter und Reden, dazu ein schrilles Quieken, das vermutlich von Paul herrührte. Auf mein Klopfen hörte der ganze Lärm so schlagartig auf, dass man hätte meinen können, die Nacht hätte ihn verschluckt. Ich hatte keine Lust herumzuwarten, bis Will an die Tür kam und seine Wer-bist-du-denn?-Nummer abzog.
Ich ging zurück in Richtung Hotel und auf dem steinernen Fußweg zur hinteren Tür, durch die es zu meinem Zimmer im zweiten Stock hinaufging. Unterwegs begegnete ich dem herumstreunenden Hotelkater und hielt ihm die Fliegengittertür auf, falls er mit reinkommen wollte. Der war aber viel zu beschäftigt. Allerdings pausierte er kurz, um mich zu mustern, bevor er weiterging. Ich wünschte, ich hätte genauso dringende Geschäfte zu erledigen.
Von der vorderen Veranda her hörte ich Stimmen und Helene Baums Hyänenlachen herüberwehen. Das Abendessen war also anscheinend vorbei, und man hatte sich jetzt zu weiteren Drinks auf der Veranda versammelt. Wenn sie die Leute auch nur beiläufig kannte, zählte Mrs Davidow sich selbst auch immer zu einer Dinnerparty mit dazu. Wenn also für zehn gedeckt war, konnten es, mit Lola dazwischengeklemmt, am Ende elf sein.
Musik gab es auch. Vielleicht hatte man dafür Ree-Janes
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