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Das verschwundene Mädchen: Roman (German Edition)

Das verschwundene Mädchen: Roman (German Edition)

Titel: Das verschwundene Mädchen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martha Grimes
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Bäume, zu jung, um allein gelassen zu werden, die darauf warteten, dass jemand kam oder etwas, und schließlich erkannten, dass nie einer käme.
    »Jawohl«, sagte Mr Root. »Bei manchen von seinen Sachen, da würde ich sagen, er weiß, wovon er redet. Direkt von der Leber weg. Darin ist Frost richtig gut, nichts da mit Herzschmerzgedichten über griechische Urnen und solches Zeug. Nein, nein« – er hielt das Buch hoch – »geradeheraus gesagte, klipp und klare Worte über Natur und so.« Er gab das Buch wieder Ulub.
    Ulub schien über die Gabe nicht sehr glücklich.
    »Mr Root«, sagte ich, »ich finde nicht, dass er geradeheraus ist. Er meint viel mehr als das, was er vermeintlich sagt.«
    Mr Root schob seine Schirmmütze hoch und kratzte sich die Stirn.
    Ulub wippte mit dem Kopf heftig auf und ab. Ich glaubte, er wollte mir beipflichten, weil er durch mich vielleicht aus dem Schneider war.
    »Was meinst du damit?« Mr Roots Augen wurden ganz schmal, als hätte ich ihn gerade beleidigt.
    Ich wollte eigentlich gar nicht darüber reden. Keine Ahnung, warum ich meine Klappe aufgemacht hatte. »Also, ich glaube, er meint etwas ganz anderes als das, was er sagt. Oder vermeintlich sagt.«
    Inzwischen war Ulub so weit gelockert, dass er herüberkam und sich neben mich auf die Bank setzte.
    Ubub kam mit einem Grape Crush aus Brittens Laden. Er fragte mich, auf seine Art und Weise, ob ich auch eins wollte, und ich lehnte dankend ab. Ich bat Mr Root, mir das Buch mal kurz zu leihen, und er reichte es mir.
    »Könnte ich auch einen Zettel haben und Ihren Bleistift?«
    Er riss ein kleines Stück Papier ab und reichte es mir zusammen mit seinem Bleistift. »Was machst’n da?«
    »Bloß was abschreiben.«
    Ich schrieb die letzten Zeilen auf den Zettel, faltete ihn zusammen und steckte ihn in meine Geldbörse.

12. KAPITEL
    Meine Mutter teilte mir mit, dass ich spät dran war (was ich bereits wusste) und dass Miss Bertha und Mrs Fulbright im Speisesaal schon auf ihr Mittagessen warteten.
    Ich fragte, was sie zu essen bekämen, und als meine Mutter erwiderte: »Schinkenwindrädchen«, spitzte ich die Ohren und war plötzlich gar nicht mehr so traurig. Schinkenwindrädchen waren vielleicht das Einzige, was mit Robert Frost konkurrieren konnte.
    Ja, allmählich wurde es ein berauschender, herrlicher Tag, und ich mittendrin: ich, hübscher als Ree-Jane, drauf und dran, zum Mittagessen gleich Schinkenwindrädchen zu verspeisen. Und drauf und dran, sie Miss Bertha zu servieren, die Schinkenwindrädchen hasste und letztes Mal, als sie sie serviert bekommen hatte, die Käsesoße abgekratzt und das Windrädchen über den Fußboden gerollt hatte, wo es mit einem Stuhlbein kollidiert war.
    Mrs Fulbright war hochnotpeinlich berührt. Ich feixte. Das einzig Dumme war nur, dass jetzt ein völlig passables Windrädchen außer Gefecht genommen war. Falls es überhaupt Schmutz abgekriegt hatte natürlich.
    »Du weißt doch, dass sie die nicht mag«, sagte ich, sehr hilfreich, zu meiner Mutter.
    »Die alte Närrin. Na, wenn die was anderes will, kannst du ihr ja sagen, wir hätten vom Abendessen gestern noch eine Portion Hühnerpastete. Reste mag sie bestimmt auch nicht.«
    Seit ich auf der Welt bin, kommen Miss Bertha und Mrs Fulbright im Sommer immer hierher. Sie könnten hundert sein, sind aber vermutlich in den Achtzigern. Mrs Fulbright ist eine von diesen alten Frauen mit einem Teint so strahlend und schimmernd wie zerriebenes Perlmutt. Ihre Gemütsart passt dazu: nie eine Klage, immer ein Kompliment.
    Miss Bertha sieht dagegen bloß einfach zerquetscht aus. Sie geht so gebückt, dass ihr Kopf jeden Sommer näher und näher an den gebohnerten Fußboden des Speisesaals gerät. Ihr Buckel macht die Situation nicht besser, und sie braucht natürlich einen Stock, der wie ein Bohrer auf den Boden niedersaust. Sie hat nie geheiratet, und ich frage mich, ob sie je einen Freund hatte oder womöglich schon mit diesem Buckel geboren worden war. War sie ein buckliges Baby gewesen? Mit einem ganz winzigen Buckel, nicht größer als ein Knöchel?
    Auf den Tellern fürs Mittagessen schimmerte auch Tomatensülze, in ein Salatblatt gebettet mit einem Klecks Mayonnaise daneben und ein paar Radieschenraspeln. Die Käsesoße, die über die Schinkenwindrädchen gegossen wurde, war dick und golden. Darüber wurde eine Prise Paprikapulver gestreut.
    Das Gericht sah so hübsch aus, dass ich es sträflich fand, es jemandem aufzutischen, der es kategorisch

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