Das verschwundene Mädchen: Roman (German Edition)
Plattenspieler heruntergeschafft. Ich setzte mich auf die unterste Treppenstufe, den Rock zeltförmig über die Knie gezogen, und stützte das Kinn auf den Knien auf. Gerade spielte »Tangerine«.
Ich erinnerte mich, wie ich das Lied im Club am Tamiami Trail und im Rony Plaza gesungen hatte. Oder vielmehr so getan hatte, denn ich war ja auf die Reise nach Miami Beach nicht mit eingeladen gewesen. Es kam mir vor, als läge es schon so lange zurück. Ich begriff gar nicht, warum, weil es kaum eine Woche her war, seit sie aus Florida zurückgekehrt waren.
Als ginge es dem Untergang entgegen, trottete ich die Treppe hoch. Tu nicht so dramatisch, sagte ich mir, trotzdem überkam mich so eine Untergangsstimmung.
In meinem Zimmer war eine Spielzeugkiste, die ich selten aufmachte, weil ich fand, ich wäre allmählich zu alt, um mit Plüschtieren zu spielen und auf jeden Fall mit Puppen.
Über meine Spielzeugkiste hatte es einen Riesenstreit gegeben – gab es wahrscheinlich immer noch, denn Ree-Jane hatte sie noch nicht gekriegt. Lola Davidow wollte, dass ich sie Ree-Jane schenkte, damit die ihre Sachen darin aufbewahren konnte.
»Was für Sachen? Ich bewahre meine Sachen darin auf.« Die Frage kam mir ganz vernünftig vor, obwohl ich zugebe, dass ich dabei etwas hochmütig klang.
Mrs Davidows Mund mahlte auf diese typische Art, mit der sie ihre schmatzende Antwort immer präsentierte: die Lippen geschürzt, entspannt, wieder geschürzt, der Mund auf und zu, ohne was zu sagen. Wie bei den Comicfiguren im Kino, bevor der Hauptfilm kam.
»Diese Kiste gehört mir schon seit Babytagen«, sagte ich ihr. Als ihr Mund schließlich funktionierte, sagte sie, ich sei eben einfach bloß egoistisch.
Dann kam Ree-Jane angehumpelt (ich stelle sie mir gern gehbehindert oder sogar mit Klumpfuß vor) und nannte mich ebenfalls egoistisch.
»Für was willst du sie denn?«, sagte ich. »Hast du eine Leiche, die du reinstopfen möchtest?«
»Sei nicht so blöd.«
»Ich benutze diese Kiste.«
»Da ist doch bloß Schrott drin.«
»Woher weißt du das? Hast du hier etwa rumgeschnüffelt?«
»Du hast in der Kiste doch bloß Kinderkram.«
»Ich weiß. Ich bin ein Kind.« Das war schon das zweite Mal in kürzester Zeit, dass ich mich freiwillig als Kind ausgab. Hoffentlich würde das nicht zur Gewohnheit werden. »Na, jedenfalls hab ich sonst keinen anderen Platz für meine Mäuse.« Ich kratzte mich am Kopf, als würde ich tatsächlich überlegen.
»Deine was?«
»Mäuse. Eine Mutter und ein Vater, und sie haben Babys. Willst du sehen?« Ich hob den Deckel.
Ree-Jane hinkte von dannen und brummelte irgendwas vor sich hin.
Was sollte das Ganze eigentlich? Wenn sie wirklich eine Kiste wie meine brauchte, mit der abgeblätterten und ausgebleichten rosa Farbe, dann hatte ihre Mutter ja wohl genug Geld, ihr eine zu kaufen. Sie hatte sich vor ein paar Jahren ins Hotel Paradise eingekauft, und es gehörte ihr zur Hälfte. Vielleicht dachte sie deswegen, ich sollte mich von meiner Spielzeugkiste trennen – weil sie zur Hälfte ihr gehörte.
Und wieso wollte Ree-Jane was mit einer Spielzeugkiste zu tun haben, insbesondere mit meiner?
Ich wusste, dass meine Mutter auch bald auftauchen würde, denn die beiden würden sich über meinen Egoismus sicher bei ihr beschweren. Meine Mutter wollte bloß, dass Frieden herrschte.
Ich öffnete die Kiste und schaute hinein, denn jetzt hatte ich plötzlich das Gefühl, als wäre dieses ganze Zeug von unschätzbarem Wert. Genauso gut hätte sie voll mit Diamanten und Rubinen sein können. Es gab eine Lumpenpuppe – einfach eine zerlumpte Puppe mit kahlen Stellen auf dem Kopf und nur einem Ohr. Sie tat mir leid, hauptsächlich deswegen, weil ich mich nicht erinnern konnte, wann ich zuletzt mit ihr gespielt hatte. Ich konnte mir nicht mehr vorstellen, mit ihr zu spielen. Ein Fleckchen Verbandsmull konnte ich ihr aber schon besorgen, denn Ohren können ja heftig bluten.
Während ich die Sachen nacheinander herausnahm, fiel mir auf, wie sehr diese Kiste der Spielzeugkiste von Mary-Evelyn Devereau in dem alten Haus dort drüben am See ähnelte.
Mary-Evelyn. Sie war so alt wie ich, als sie ertrank, als sie ertränkt wurde, mit dem Kopf unter Wasser gehalten wurde, bis sie keine Luft mehr bekam. Ich atmete tief durch und überlegte, wie lange ich wohl die Luft anhalten könnte?
Mary-Evelyn . Wenn Rose Devereau nicht mit Ben Queen davongelaufen wäre, dann wäre Mary-Evelyn vielleicht nicht so gestorben,
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