Das verschwundene Mädchen: Roman (German Edition)
wie sie starb. Doch es ist nicht fair, ihnen die Schuld in die Schuhe zu schieben, denn sie hatten ja vor, sie von dort fortzuholen. Bloß war es da schon zu spät.
Mary-Evelyn hatte ein Mr-Ree-Spiel besessen, das gleiche wie ich. Für jeden Spieler gab es eine Figur, ein hohles Röhrchen mit einem winzigen puppenartigen Kopf, den man abmachen konnte, um darin die kleinen Waffen zu verstecken, die ein Spieler aufnehmen konnte, wenn er von den Karten dazu aufgefordert wurde. Allerdings sind zwei von diesen Röhrchen wieder aufgetaucht: Künstler George an der Quelle in Crystal Spring und das andere, Nichte Rhoda, im Brokedown House, und ich dachte, das Mädchen hätte sie als eine Art Hinweis dort gelassen – worauf, wusste ich nicht. Vielleicht einfach darauf, dass sie dort gewesen war.
Womöglich hatte ich sie ja selbst dort liegen gelassen.
Darüber wollte ich lieber nicht länger nachdenken.
9. KAPITEL
Ich dachte aber trotzdem weiter darüber nach.
Es kommt einen hart an, wenn man meint, dass man allmählich verrückt wird, besonders wenn man erst zwölf ist. Ich bin noch nicht vielen Verrückten begegnet.
In Weeks Pflegeheim drüben, wo ich mit meiner Mutter manchmal Kuchen und Torten hinbrachte, saßen viele alte Leute mit offenem Mund herum. Das sah ziemlich verrückt aus, aber vielleicht ist das ja so, wenn man alt ist.
Während ich jetzt neben meiner Spielzeugkiste saß, die vielleicht nicht mehr allzu lang mir gehörte, inspizierte ich eins der Röhrchen aus dem alten Mr-Ree-Spiel: das Tante-Cora-Röhrchen. Ich entfernte ihr den Kopf und steckte den Finger hinein. Das perfekte Versteck für ein zusammengerolltes Stückchen Papier. Doch die beiden Spielfiguren, die ich gefunden hatte, eine bei der Quelle und die andere beim Brokedown House, waren leer gewesen. Jetzt war ich fast froh darüber, denn wenn ich mir selber Botschaften geschrieben hätte, stünde ich bestimmt bald bei Weeks vor der Tür, mit Koffer statt mit Kuchen. Weil dort nie Kinder waren, stellte ich mir vor, dass es solche Orte vermutlich auch für Kinder gab.
Und dann dachte ich an Mary-Evelyns Mr-Ree-Schachtel. Hatten aus ihr zwei Figuren gefehlt? Ich versuchte krampfhaft, mich zu erinnern. Ich wusste noch, dass ich die Schachtel aus ihrer Spielzeugkiste genommen und alle Teile angeschaut hatte, aber vielleicht war mir auch entgangen, dass etwas fehlte.
Und wenn dort genau diese beiden Figuren fehlten?
Vielleicht sollte ich noch mal hingehen. Die Vorstellung behagte mir nicht, nach allem, was passiert war, und nachdem ich beinahe umgebracht worden war.
Das Haus selbst war aber doch harmlos. Orte nahmen nicht die bösen Schwingungen auf, die von manchen Menschen ausgingen. Der dritte Stock unseres Hotels, die vier Zimmerchen dort oben, die Fußböden, Möbel, Türen und Wände: die waren ja nicht verrückt geworden, bloß weil Aurora Paradise in ihnen wohnte.
Das Haus der Devereaus war bloß ein Haus. Es war eben zufällig von mindestens einer total verrückten Person bewohnt worden sowie ein paar anderen, auf die das Haus auch gut hätte verzichten können.
Ree-Janes Zimmer, nur mal als Beispiel. Das Bett und die Kommode kamen sich bestimmt nicht besser vor als andere Betten und Kommoden, bloß weil Ree-Jane dort wohnte.
Ree-Jane!
Ree-Jane war in meinem Zimmer gewesen. Sonst hätte sie ja nicht gewusst, was in der Spielzeugkiste war. Sie hätte Nichte Rhoda und Künstler George einfach wegnehmen können. Rasch flogen meine Gedanken zu jenen grässlichen und dann wundervollen zehn Minuten im Rainbow Café, als ich Ree-Jane dabei ertappt hatte, dass sie in meiner Nische saß (meiner und Mauds und der vom Sheriff) und zwar mit dem Sheriff, und er mir zeigte, was sie ihm gegeben hatte: ein Künstler-George-Röhrchen, von dem sie behauptete, sie hätte es bei der Quelle gefunden. Und außerdem hatte sie gesagt, so hätte ich möglicherweise mit Ben Queen Kontakt aufgenommen. Der Sheriff hatte sie in null Komma nichts abserviert (das war das Wundervolle dran) und mir später das Künstler-George-Röhrchen ausgehändigt.
Das bewies nun nicht, dass sie Künstler George aus meinem Spiel genommen hatte, denn ich hatte so eine Figur ebenfalls in der steinernen Nische bei der Quelle gefunden, bevor sie dort gewesen war. Wenn das das Teil aus Mary-Evelyns Spiel war, hätte Ree-Jane immer noch meinen Künstler George nehmen können.
Die Nichte-Rhoda-Figur hatte Dwayne im Wald beim Brokedown House in der Nähe vom Lake Noir entdeckt.
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