Das verschwundene Mädchen: Roman (German Edition)
sich bestimmt Sorgen, mir könnte bei diesen Recherchen etwas zustoßen.
»Ich glaube, ich nehme das Chili.«
»Ich auch«, sagte der Sheriff.
Er aß sonst nie Chili. Ich glaube, er mochte gar kein Chili. Es war also wahrscheinlich das Zeichen für eine Art Waffenstillstand.
Maud brachte zwei Teller mit Chili, und wir schmausten und unterhielten uns nebenher über Belanglosigkeiten.
Und ich vergaß ganz, ihm von dem Slade-Baby zu erzählen und dass es ein Junge gewesen war. Ich sagte ihm auch nichts von Ralph Diggs oder Morris Slade, was ich in besseren Zeiten wohl getan hätte.
Von wegen mit fremden Männern reden.
Meinen Mittagsdienst im Hotel hatte ich verpasst. Also sauste ich, als ich merkte, dass es zwölf Uhr war, aus dem Rainbow hinüber zum Taxistand, wo Delbert gerade in ein Comicheftchen vertieft war und Wilma, die Frau in der Zentrale, sich die Nägel leuchtend korallenrot lackierte.
Delbert schnappte sich seine Schlüssel, und wir fuhren los.
Kaum hatten wir uns in Bewegung gesetzt, fing er auch schon an: »Die müssen doch immer als Pärchen kommen, oder? Und wenn nicht, wozu dann eine Arche? Ich mein, man könnte zur Not doch einfach ein Zelt aufstellen.«
Den Bauch herrlich mit Chili vollgestopft machte ich schläfrig die Augen zu, wenn auch nicht die Ohren. Ich würde mich um die Realität einen Dreck scheren und einfach nur durch die Gegend gondeln.
Es ging mir ziemlich gegen den Strich, dass der Sheriff fand, mein Bruder lebte mehr in der »realen« Welt als ich. War der Sheriff eigentlich jemals in der großen Garage gewesen? Jeden Tag, vom Morgengrauen bis zur Abenddämmerung, waren Will und Mill da drinnen und boten der realen Welt die Stirn.
Mrs Davidow war in der Küche, in der einen Hand die Zigarette, in der anderen irgendeinen blässlichen Drink. Offenbar wartete sie darauf, dass ihr das Mittagessen serviert wurde, irgendeine Abwandlung ihrer Rindfleisch-Grapefruit-Diät. Meine Mutter war von meiner Ausrede, ich hätte ewig auf ein Taxi warten müssen, seltsam ungerührt.
»Auf ein Taxi muss man nie lange warten. Miss Bertha und Mrs Fulbright haben bereits gegessen.«
»Zum Glück war Ralph da«, sagte Mrs Davidow.
»›Zum Glück‹? Sie bezahlen ihn doch dafür, dass er da ist.« Da fiel mir ein, dass das ja nicht ganz stimmte.
Hinter mir war ein Lachen zu vernehmen, ein tiefes Lachen. Ich hatte ihn gar nicht hinten an dem runden Tisch sitzen sehen, wo ich immer meine Mahlzeiten verzehrte, bisweilen in Gesellschaft von Walter. Dass Ralph an unserem Tisch saß, passte mir gar nicht.
Mrs Davidow schaute mit einem albernen Lächeln zu ihm hin. »Jedenfalls verdient er sich das, was er bekommt.« Meine Mutter gab zwei sehr saftig aussehende Hamburger auf die beiden Teller, und Mrs Davidow trug sie höchstpersönlich an den Tisch hinüber. Ich registrierte überrascht, dass sie außer einem Glas auch noch etwas anderes tragen konnte. Sie speiste tatsächlich mit Ralph Diggs zu Mittag!
Ich lächelte zu Walter hinüber. »Ich hab immer gesagt, einen besseren Kellner als Walter Knepp haben wir nicht. Dann soll er auch das Trinkgeld kriegen, wenn er für mich einspringt.«
Auf seine gedehnte Art sagte Walter: »Miss Bertha gibt kein Trinkgeld.«
»Ich meinte, wenn der Sommer vorbei ist und sie wieder gehen.« Ich hatte überhaupt nichts gemeint, es war bloß hohles Gerede.
Meine Mutter nahm einen Teller aus dem Regal über dem Herd. »Na, jetzt, wo du da bist – endlich –, kannst du deiner Großtante ja den Tee raufbringen.«
Ich Glückspilz!
45. KAPITEL
Aurora hob den kleinen Deckel an und spähte in die Teekanne, als suchte sie dort nach mehr als nur Teeblättern, setzte ihn dann wieder drauf und beäugte die Milch im Kännchen, lüpfte den Deckel der Zuckerdose und blickte stirnrunzelnd hinein. Sie erinnerte mich an ein Eichhörnchen auf der Suche nach einer versteckten Eichel.
Dann nahm sie einen von den Florentinern meiner Mutter und betrachtete eingehend die durchs dünne Ausziehen entstandenen Löcher und Schlitze.
Ich lümmelte gegen die Wand und stellte eine überflüssige Frage. »Was machst du da?«
»Ich überprüfe meinen Tee. Was denkst du denn?«
»Wieso trinkst du Tee? Du trinkst doch sonst nie Tee.«
Sie biss schulterzuckend in das Plätzchen und ließ vier Stückchen Würfelzucker in ihre Tasse plumpsen. »Die Milch ist kalt. Kommt wahrscheinlich direkt aus dem Kühlschrank.«
»Das tut mir aber leid. Nächstes Mal melke ich eine Kuh. Jetzt zu
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