Das verschwundene Mädchen: Roman (German Edition)
dass auch Morris Slade hier ist.«
Aurora schüttelte den Kopf. »Mädchen, du hast ja eine noch wildere Fantasie als dein verrückter Bruder.« Sie verteilte die Karten.
Das ärgerte mich maßlos. Es klang wie bei Dwayne und dem Sheriff.
Ich nahm ihr Glas, schnappte mir meine Streichholzschachtel und marschierte die Treppe hinunter. Auf halbem Weg auf dem Gang hörte ich sie mit ihrer Kratzestimme singen: über den alten ennui und wie man ihn bekämpfte, indem man gehörig einen draufmachte. Das tat Aurora jeden Tag ihres Lebens: gehörig einen draufmachen.
Ich betrachtete die geklaute Streichholzschachtel: L’ennui .
Das klang definitiv nach Emma.
43. KAPITEL
Außer dem Sheriff, dessen Terminplan sich nach dem Kommen und Gehen von Gesetzesbrechern richtete, war es Dwayne, der am besten etwas Vernunft in diese Geschichte bringen konnte. Leider brachte er auch eine gehörige Menge Sarkasmus hinein.
Am nächsten Morgen saß ich nach meinem Pfirsichpfannkuchen-Frühstück also wieder einmal auf dem Stapel Autoreifen, die Arme um meine verwaschene blaue Radlerhose geklammert, das Kinn auf den Knien, und wartete darauf, dass Dwayne zum Luftschnappen hochkam.
»Ich erzähl dir nichts, solange du auf dem Motor rumhaust oder dem Auspuffrohr oder sonst was.« Er lag unter einem alten blauen Chevy.
»Okay«, sagte er.
Damit meinte er nicht: Okay, dann komm ich hervorgerollt , sondern: Okay, dann eben nicht. Er hatte Spaß dran, Dinge wörtlich zu nehmen, um mich zu ärgern.
Das meiste hatte ich ihm aber schon erzählt, denn ich hatte nicht widerstehen können, wogegen er dem Zuhören schon widerstehen konnte. Doch ich wusste, er hörte zu. Es gab sogar Zeiten, da glaubte ich, er würde sich um mich richtig Sorgen machen.
Endlich hörte Dwayne mit seiner Arbeit unter dem Auto auf und rollte hervor.
»Manchmal glaub ich, du sparst dir die Arbeit da untendrunter extra auf, bis ich komme.«
Der ölverschmierte Lappen war schon draußen, und er wischte sich die Finger ab. »Ich auch.«
»Haha!« Ich hasste es, wenn mir dazu bloß haha! einfiel – eine typische Ree-Jane-Reaktion.
»Okay, und jetzt?«
Skeptisch suchte ich sein Gesicht nach einem Zeichen ab, ob er sich vielleicht auf meine Kosten über mich lustig machte, und fand es: Sein Mund zuckte, so als wollte er sich ein Lächeln verkneifen. »Der Name des Babys war Fey.« Damit hatte ich Aurora auch schon an der Nase herumgeführt. »Wie würdest du das auf Anfrage buchstabieren?«
»F-a-y. Genauso wie ohne Anfrage. So buchstabiert man eben ›Fay‹. Du wirst es natürlich gleich anders buchstabieren.«
»Der Clou dabei ist was anderes, weißt du.«
»Das hoffe ich.« Er stand mit verschränkten Armen an den Chevy gelehnt und musterte mich gespannt.
»Der Clou ist: Man buchstabiert es f-E-y. Es ist ein Kosename. Mit richtigem Namen hieß das Baby Raphael, laut Sheriff Mooma.«
»Das ist ein Jungenname. Willst du damit sagen, das Kind war ein Junge?«
Ich nickte eilfertig.
Dwayne ließ sich das durch den Kopf gehen. »Erst hieß es: Sie ist wieder da. Aber das funktioniert nicht mehr, darum heißt es jetzt: Er ist wieder da.« Er schaute mich an und kaute dabei einen Kaugummi, von dem ich gar nicht wusste, dass er ihn im Mund gehabt hatte. Dwayne war in der Hinsicht sehr dezent. »Mein Gott, Mädchen, bei dir stromern genug Gruselfiguren rum, dass du damit einen ganzen Hamlet ausstatten könntest.«
»Was? Die hab aber nicht ich erfunden!«
»Uuuhh«, ächzte er. »Und alle dachten, das verschwundene Kind wäre ein Mädchen!«
Ich eierte ein bisschen herum: »So viele waren es auch wieder nicht, die dazu eine Meinung gehabt hätten. Das Baby war ja bloß einen Tag hier. Wichtig wurde es erst durch seine Entführung. Würde ich wetten. Der Kleine hatte keinem was bedeutet, er war unsichtbar, bis er entführt wurde.«
Dwayne schwieg. Dann meinte er: »Entschuldige, hab ich jetzt was verpasst? Dieser Raphael – sollte mir das irgendwas sagen?«
Kaum, dachte ich mir, denn Dwayne wusste das doch mit Mr Woodruffs Vater nicht. Also erzählte ich es ihm und fügte wie bei Aurora hinzu: »Fey nannten sie ihn als Baby. Es gibt aber einen gebräuchlicheren Kosenamen für Raphael als Fey.«
»Ralph, würde ich sagen.«
»Oder Rafe.«
Er kaute so langsam, dass sich sein Unterkiefer fast nicht bewegte. »Du vermutest doch nicht etwa, dass dieser neue Kerl, der da jetzt bei euch im Hotel arbeitet, dass der das verschwundene Kind ist?«
Das verschwundene
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