Das verschwundene Mädchen: Roman (German Edition)
Raphael Slade.« Dass sie ins Leere starrte, bedeutete wohl, dass sie nachdachte.
Sie erhob sich tatsächlich ein Stückchen aus ihrem Sitz und ließ sich dann wieder zurückfallen. Nach der Anstrengung musste sie sich erst noch einen Florentiner genehmigen. »Warum?«, wollte sie Krümel mampfend wissen.
»Das hab ich mich selber auch schon gefragt.«
»Also gut. In der Ballnacht wird das Slade-Baby aus dem Belle Ruin entführt. Ich war dort, hab ich dir das schon erzählt?«
»Schon oft.«
»Die Ballkönigin, das war ich.«
Aurora war einundneunzig. Damals wäre sie so um die siebzig gewesen. Wenn man bis dahin nicht tot ist, dann ist man wahrscheinlich die Ballkönigin. Ich wollte aber nicht, dass sie bei dem Thema jetzt hängen blieb. »Davor hast du mir erzählt, dass du dort warst, als Sheriff Mooma kam.«
»Ja, war ich.«
»Okay, Gloria Spiker hat ihm also gesagt, sie sei kurz rausgegangen, um zu telefonieren, und war zwanzig Minuten weg.«
Sie nickte, nahm noch einen Bissen von dem Plätzchen und begutachtete den Rest.
»Die hat gelogen und Prunella Rice auch. Die wurden beide bestochen, damit sie diesen Anruf arrangierten, und Mr Woodruff hat ebenfalls gelogen, als er zu Sheriff Mooma sagte, er bräuchte Zeit, um herauszukriegen, ob Morris Slade was mit der Entführung zu tun hätte. Mr Woodruff war natürlich klar, was los war und wer dafür verantwortlich war, denn er wusste, dass der Anruf nur vorgetäuscht war.«
Aurora schaukelte, beide Hände auf den Armlehnen ihres Sessels und mit einem schalkhaften Glitzern in den Augen. »Der alte Lucien Woodruff hat jemanden dafür bezahlt, dass er das Baby wegschafft.«
»Robby Stone. Das war der Page, der den Autounfall hatte.«
»Du sagst, seine Leiche hat man gefunden, aber nicht die des Babys.«
Ich nickte. »Ich vermute also, Robby hatte das Baby schon irgendwo abgegeben.«
»Oder umgebracht und begraben.«
Die Vorstellung von einem ermordeten Baby wollte ich nicht allzu lang in meinem Kopf herumgeistern lassen. »Wohl kaum. Denn das Baby entpuppte sich als Ralph Diggs.«
Sie hörte auf zu schaukeln. »Abgegeben schon, aber keiner weiß, wo.« Sie schnalzte mit der Zunge. »Und damit hat sich doch der Laden!« Aus der Tasche ihres dunkelblauen, über und über mit winzigen Blumensträußchen bestickten Baumwollkleids holte sie ihre Spielkarten. Die knallte sie auf den Tisch, aber vermutlich eher, um besser nachdenken zu können, und nicht, weil sie Solitär spielen wollte. »Wieso fragst du ihn nicht?«
»Ihn fragen? Als ob der es mir sagen würde. Na, jedenfalls will ich nicht, dass er erfährt, dass ich Bescheid weiß. Morris Slade sollte wohl die Schuld an der sogenannten Entführung zugeschoben werden.«
»Er wurde reingelegt? Gott, jetzt mal nichts überstürzen. Du hast keinerlei hieb- und stichfeste Beweise. Hast du diesen Oates denn erreicht?«
Allmählich war Aurora nun wohl doch etwas verwirrt. »Erreicht? Wie denn? Das war damals zu deiner Zeit. Ich hab dir doch gesagt, ich kann keinen Privatdetektiv bezahlen.« Ich sah keinen Grund hinzuzufügen, dass die Gebrüder Woods und Mr Root an dem Fall dran waren.
Nachdem ich Aurora den Tee gebracht hatte, blieben mir noch ein paar Stunden bis zum Servieren des Drinks. Ich beschloss, einen kurzen Abstecher zu Brittens Laden zu machen, um zu sehen, ob Mr Root und die Woods schon zurück waren.
Waren sie. Alle drei standen rauchend beieinander, oder jedenfalls Mr Root und Ubub. Ulub und Ubub trugen ihre alten Anzugjacketts, den Kragen hochgeschlagen. Der Kragen von Mr Roots kariertem Dschungelhemd war ebenfalls hochgeschlagen. Vermutlich fühlten sie sich alle wie auf der Jagd nach dem Malteser Falken. Jedenfalls besser, als wenn der arme Ulub Emily Dickinson deklamierte. So wie die dicht beieinander standen, hätte man meinen können, ihnen läge eine Leiche zu Füßen – oder ein Haufen Geld.
Als sie mich sahen, winkten sie mich mit wilden Handbewegungen zur Lagebesprechung herüber.
»Hallo. Fanden Sie denn …?«
Alle fingen gleichzeitig an zu reden, wobei Mr Root der Einzige war, den ich verstehen konnte.
»Diesen Slade? Aber klar doch. Der …«
»Eh ahn at ow fät unnschen …«
»Jetzt warte mal, Ubub. Das erzähl ich jetzt.«
Ubub sah niedergeschmettert aus. Er hatte ganz große, schokoladenbraune Augen, und niedergeschmettert aussehen konnte er gut.
Mr Root ruderte ein wenig zurück. »Ich meine, bloß den Anfang, ihr wisst schon, damit Emma im Bilde ist.«
»Ahen
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