Das Versprechen
Einige Möbel wirkten frisch poliert, der Boden war geschrubbt, der Geruch von Farbe hing noch in der Luft. In einer Ecke stand ein geschnitzter Schaukelstuhl, auf dem eine dicke Decke lag.
An den Wänden hingen uralte Ferrotypien von Männern, Frauen und Kindern, alle offenbar mit dem Feinsten bekleidet, das sie hatten: gestärkte blütenweiße Hemden und Melonenhüte für die Männer; lange Röcke und Hauben für die Frauen; spitzenbesetzte Halskrausen für die jungen Mädchen; enge Anzüge und geknotete Halstücher für die Jungen. Lou betrachtete sie genauer. Ihre Gesichter offenbarten die gesamte Bandbreite von Sturheit bis Frohsinn. Die Kinder wirkten noch am lebendigsten, die erwachsenen Frauen eher misstrauisch, als glaubten sie, es ginge um ihr Leben und nicht nur um ihre Photographie.
Amanda lag in einem Bett aus gelbem Pappelholz, wo sie von schweren Federkissen gestützt wurde. Eine PatchworkSteppdecke war über sie gebreitet. Ihre Augen waren wie gewöhnlich geschlossen. Die Matratze war ebenfalls dick mit Federn gefüllt, unförmig, aber weich und mit gestreiftem Drillich bezogen. Ein verblichener Läufer lag neben dem Bett, damit bloße Füße nicht als Erstes am frühen Morgen kalten Boden berühren mussten. Den Teppich würde ihre Mutter wohl kaum benötigen, sagte sich Lou. An den Wänden waren Kleiderhaken angebracht, an denen ein paar Sachen hingen. In einer Zimmerecke stand eine alte Anrichte, darauf ein bemalter Porzellankrug und eine ebensolche Schüssel. Lou schlenderte durchs Zimmer, schaute hier etwas, berührte da etwas. Sie bemerkte, dass der Fensterrahmen leicht verzogen und die Glasscheiben stumpf waren, als wäre irgendwie Nebel in das Material eingedrungen.
Oz saß bei seiner Mutter, beugte sich über sie und gab ihr einen Kuss.
»Hallo, Mom.«
»Sie kann dich doch nicht hören«, murmelte Lou vor sich hin, als sie ihre Wanderung durch das Zimmer beendet hatte und aus dem Fenster schaute. Sie roch die Luft, die so rein war, wie das Mädchen es nie zuvor erlebt hatte; die Brise trug ein Gemisch von Düften verschiedener Blumen und Bäume mit sich, den Rauch brennender Holzscheite, den Geruch von langem Viehgras und von großen und kleinen Tieren.
»Es ist sicher ganz nett hier in ...« Oz schaute Lou an.
»Virginia«, half sie aus, ohne sich umzudrehen.
»Virginia«, wiederholte Oz. Er zog die Halskette aus der Hosentasche.
Vom Eingang her beobachtete Louisa die Szene und das Gespräch.
Lou drehte sich um und sah, was Oz vorhatte. »Oz, das mit der blöden Kette funktioniert doch nicht.«
»Warum hast du sie mir dann zurückgeholt?«, fragte er ungewohnt gereizt.
Das brachte Lou zum Verstummen; darauf wusste sie nichts zu antworten. Oz wandte sich ab und führte sein Ritual über Amandas Körper fort. Doch bei jeder Pendelbewegung des Quarzkristalls, bei jeder sanft gemurmelten Beschwörungsformel war Lou klar, dass er versuchte, einen Eisberg mit einem Streichholz zum Schmelzen zu bringen; und daran wollte sie nun unter keinen Umständen Anteil haben. Sie drängte sich an ihrer Urgroßmutter vorbei und rannte die Diele hinab.
Louisa trat ins Zimmer und setzte sich neben Oz. »Wofür soll das gut sein, Oz?«, fragte sie ihn und wies auf den Schmuckstein.
Oz nahm die Kette in die hohle Hand und besah sie sich aus der Nähe, wie jemand, der die Uhrzeit wissen will, auf eine Taschenuhr schaute, »’n Freund hat es mir erzählt. Es soll Mom helfen. Lou glaubt das aber nicht.« Er hielt kurz inne. »Ich weiß nicht, ob ich ’s selber glaube.«
Louisa fuhr ihm mit der Hand durchs Haar. »Manche sagen, wenn man nur glaubt, dass jemand gesund werden kann, ist das schon die halbe Medizin. Ich mein’ das auch.«
Glücklicherweise wurde bei Oz die Verzweiflung gewöhnlich rasch von aufkeimender Hoffnung ersetzt. Er nahm die Kette und schob sie unter die Matratze seiner Mutter. »Vielleicht hilft das ja so. Ma wird doch wieder gesund, nicht wahr?«
Louisa schaute zuerst den kleinen Jungen und dann seine still daliegende Mutter an. Sie legte eine Hand auf Oz’ Wange - sehr alte Haut berührte sehr junge, und dieses Zusammentreffen schien beiden zu behagen. »Glaub weiter dran, Oz. Hör niemals auf, dran zu glauben.«
KAPITEL 10
Die Küchenschränke bestanden aus abgenutztem Kiefernholz mit zahlreichen Astlöchern, der Fußboden ebenfalls. Die Dielenbretter knarrten leicht, als Oz sie mit einem kurzen Besen kehrte, während Lou Holzscheite in den eisernen Leib des Kochherdes
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