Das Versprechen
als sie majestätisch vor den Kindern stand, doch ihren bemerkenswerten haselnussbraunen Augen schien nichts zu entgehen.
Lou ging unerschrocken los, während Oz sein Bestes gab, hinter dem Rücken der Schwester zu bleiben. »Ich bin Louisa Mae Cardinal, und das ist mein Bruder Oscar.« Lous Stimme zitterte. Sie blieb nur einen Schritt von ihrer Namensvetterin entfernt stehen, und diese plötzliche Nähe enthüllte einen bemerkenswerten Umstand: Ihre Profile waren nahezu identisch. Das Mädchen und die alte Frau schienen Zwillinge zu sein, lediglich durch Generationen getrennt.
Louisa sagte nichts; ihr Blick folgte dem Krankenwagen.
Lou bemerkte es. »Sollte die Frau nicht eigentlich hier bleiben und meine Mutter pflegen?«, fragte sie. »Mom kann nämlich nicht allein für sich sorgen, und wir müssen uns darum kümmern, dass es ihr gut geht.«
Lous Urgroßmutter betrachtete den Hudson.
»Eugene«, rief sie mit leicht näselndem Tonfall, der unleugbar den amerikanischen Süden verriet, »bring doch bitte die Taschen rein, mein Bester.« Erst dann schaute sie Lou direkt an, und obwohl ihr Blick streng war, fand sich dahinter doch etwas, das Lou Grund zu der Annahme gab, sich willkommen zu fühlen. »Wir wer’n schon gut auf eure Ma aufpassen.«
Louisa Mae drehte sich um und ging zurück ins Haus. Eugene folgte ihr mit dem Gepäck. Oz konzentrierte sich voll und ganz auf seinen Teddy und seinen Daumen. Seine großen blauen Augen zwinkerten unablässig - ein eindeutiges Zeichen dafür, dass seine Aufregung ihren Höhepunkt erreicht hatte. Dazu trug er eine Leidensmiene zur Schau, als wollte er noch in dieser Minute den weiten Weg zurück nach New York City zu Fuß gehen. Hätte er die Richtung gekannt, hätte er sein Vorhaben wahrscheinlich sogar in die Tat umgesetzt.
KAPITEL 9
Das Schlafzimmer, in das Lou einquartiert werden sollte, war ziemlich spartanisch eingerichtet und das einzige Zimmer im Obergeschoss, das nur über eine Stiege erreichbar war. Es verfügte über ein einziges breites Fenster, das auf das Farmland wies. Die verwinkelten Wände und die niedrige Decke waren anstelle von Tapeten mit alten Zeitungs- und Magazinseiten bedeckt. Die meisten waren stark vergilbt, und einige hingen lose herab, wo der Kleister sich verflüchtigt hatte. Ein einfaches Bett aus Hickory- und ein teilweise zernarbter Kleiderschrank aus Kiefernholz bildeten das einzige nennenswerte Inventar. Dazu gesellte sich noch ein kleiner, grob gezimmerter Holztisch am Fenster, wo das Morgenlicht hereinfiel. Er war eigentlich ziemlich nichtssagend, doch er weckte Lous Interesse, als wäre er aus reinem Gold und mit Brillanten besetzt.
Denn in dem Holz waren immer noch deutlich und klar die Initialen ihres Vaters zu lesen: JJC. John Jacob Cardinal. Das also musste jener Schreibtisch gewesen sein, an dem er einst mit dem Schreiben begonnen hatte. Lou stellte sich ihren Vater vor, wie er als kleiner Junge gewesen sein musste, mit zusammengekniffenen Lippen, konzentriert und präzise arbeitend, als er seine Initialen ins Holz ritzte, damals schon an seine Karriere als Schriftsteller denkend. Als Lou ehrfürchtig die eingeschnitzten Buchstaben berührte, erschien es ihr, als hätte sie ihre Hand auf die ihres Vaters gelegt. Aus irgendeinem Grund spürte Lou, dass ihre Urgroßmutter ihr absichtlich dieses Zimmer zugewiesen hatte.
Ihr Vater hatte sich über sein Leben an diesem Ort nur selten geäußert. Doch wann immer Lou ihn nach ihrer Namensgeberin gefragt hatte, war John Cardinal gesprächig geworden. »Eine anständigere Frau hat es auf Erden nie gegeben.« Und dann hatte Jack meist etwas von seinem Leben in den Bergen preisgegeben, aber immer nur ein bisschen. Anscheinend behielt er sich die persönlichen Einzelheiten für seine Bücher vor, von denen Lou alle bis auf eines erst lesen durfte, wenn sie erwachsen war. So hatte der Vater ihr gesagt. Und deshalb stand Lou nun mit vielen unbeantworteten Fragen da.
Sie langte in ihren Koffer und holte ein kleines, holzgerahmtes Foto heraus. Das Lächeln ihrer Mutter war offen und strahlend, und obwohl das Bild nur eine SchwarzweißAufnahme war, wirkte der Ausdruck in Amandas bernsteinfarbenen Augen beinahe hypnotisch. Lou hatte diese Farbe immer sehr geliebt, ja manchmal sogar gehofft, das Blau ihrer eigenen Augen wäre eines Morgens verschwunden und von diesem Zusammenspiel aus Braun und Gold ersetzt. Das Foto war an einem Geburtstag ihrer Mutter aufgenommen worden. Lou, noch ein
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