Das Versprechen Des Himmels
sinnlos, um Rettung zu beten. Darios weiß nur zu gut, wie der Spruch, der das Gewölbe versiegelt, reagieren würde, wenn jemand den Versuch wagen sollte, mit physischer Gewalt einzudringen...
Lalo weiß, daß er träumt, denn er kann sehen. Sein Blick ist so klar wie nie zuvor, auch nicht im wachen Zustand oder selbst im Schlaf, ehe ihm das Augenlicht genommen worden war. In seinen Träumen bewegte er sich durch Freistatt, wie es ihm gefiel, unsichtbar, unverwundbar, als ob alle Energie, die er während des Tages unverbraucht ließ, seine nächtlichen Wanderungen nährte - nächtlich nur in ihrem Ursprung, doch sobald Lalo anfing zu träumen, bewegte er sich durch Nacht oder Tag oder manchmal unter Leuten oder mitten von Geschehnissen, die sein wacher Geist nicht erkannt hätte. Niemals jedoch versuchte er, sich diese Visionen nach dem Aufwachen ins Gedächtnis zu rufen. Der Kontrast wäre zu grausam gewesen.
Es war nun Morgen. Das klare Licht fiel auf die Gesichter der jungen Leute, die erwachten und sich fragten, was der neue Tag bringen würde, und es enthüllte gnadenlos die Furchen und Schatten in den Gesichtern der Älteren, die das nur zu gut wußten. Und doch lag eine angenehme Frische in der Luft, und das Sonnenlicht glitzerte freundlich von den Kuppeln der Tempel. Lalo glaubte sich in seine Jugend zurückversetzt, als die großen Karawanen der Stadt einen gewissen Wohlstand verschafft hatten. Beim genaueren Hinsehen erkannte er jedoch die ausgebesserten Risse, die sich unter der neuen Goldauflage verbargen, und als er um eine Ecke bog, erblickte er die gezackten Umrisse der Magiergilde. Er befand sich also in der Gegenwart oder in der Zukunft vielleicht, denn die Stadtmauern im Hintergrund waren merklich höher als in seiner Erinnerung.
Gemessen an der frühen Stunde, schien auf dem Platz viel los zu sein. Lalo trat näher und sah einen ihm bekannten, lockigen Kopf: Sein Sohn Wedemir war hier, mit einigen Freunden aus der Garnison, große, braungebrannte Männer, die lachten und gut gemeinte Derbheiten austauschten. Aber sie trugen Hacken und keine Speere, und statt der Schwerter führten sie Schaufeln mit sich. Wedemir versuchte, mit mäßigem Erfolg, Anweisungen zu geben. Etwas weiter entfernt sah Lalo seine Tochter Vanda neben einem anderen Mädchen, dessen rostbraunes Haar unter dem Schleier schimmerte. Rhian - ganz unvermittelt wußte Lalo, wer dies sein mußte. Aber wie konnte er das wissen?
Er ging näher und rief ihnen einen Gruß zu, aber sie blickten durch ihn hindurch, sie konnten seinen Geist ebensowenig sehen wie er ihre Körper, als sie ihn besucht hatten.
Auge und Verstand sehen nicht immer die gleichen Bilder... Diese Erkenntnis erschien Lalo wie die Antwort auf eine lang erwogene Frage. Er war kurz davor, zu verstehen, als ihn ein Ruf ablenkte. Die Soldaten schafften den Schutt an der Schmalseite der Magiergilde fort. Staub stob in die Luft, als der erste der großen Steine bewegt wurde. Der Wind verlieh den Staubteilchen Form und Masse. Gestalten, für die einfache Menschen keine Namen hatten, schienen einen Atemzug lang über den Arbeitenden zu schweben, dann wirbelten sie davon. War das ein Spiel des Lichts, oder hatte Lalo die Kräfte wahrgenommen, die an diese Steine gebunden waren?
Wirklichkeit - oder Einbildung?
Dieser erste Erfolg hatte die Grabenden ermutigt. Hacken zerklopften Steine in Brocken, die klein genug waren, um beseitigt zu werden. Das Erdgeschoß war freigelegt. Jemand rief, und die Männer versammelten sich um eine mit Schutt angefüllte Vertiefung neben der Wand.
»Was haben sie gefunden?« fragte Vanda ihre Freundin.
»Das müssen die Stufen sein, die zu dem Gewölbe unter der Magiergilde führen«, antwortete Rhian. »Darios gab damit an, daß ihm der Weg bekannt sei - es war ihm nicht erlaubt, mir das anzuvertrauen, denke ich, aber er wollte mir nie glauben, daß er es nicht nötig hatte, mich zu beeindrucken.«
»Seine Unbedachtsamkeit rettet ihm nun vielleicht das Leben«, meinte Vanda. »Wenn sie ihn finden und er ist am Leben, wie wirst du dich dann Wedemir gegenüber verhalten?«
Rhian zuckte mit den Schultern und errötete. »Ich weiß es nicht. Ich liebe sie beide - kannst du das verstehen? Ich liebe sie auf verschiedene Art.«
Vanda schüttelte den Kopf. »Ich war noch nie in einen Mann verliebt und schon gar nicht in zwei. Vielleicht ist das ganz gut so. Oh, schau.«, fügte sie plötzlich hinzu, »Die Männer haben eine Tür
Weitere Kostenlose Bücher