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Das Versprechen

Das Versprechen

Titel: Das Versprechen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Dürrenmatt
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stiegen ins Tobel hinunter, forschten im Bach. Die gefundenen Gegenstände wurden gesammelt, der Wald bis nach Mägendorf hin durchgekämmt.
    Ich beteiligte mich ebenfalls an den Recherchen in Mägendorf, was sonst nicht meine Art war. Auch Matthäi schien unruhig. Es war ein durchaus angenehmer Frühlingstag, leicht, ohne Föhn, doch blieb unsere Stimmung düster. Henzi verhörte im
    »Hirschen« die Bauern und die Fabrikarbeiter, und wir machten uns auf, die Schule zu besuchen. Wir kürzten den Weg ab und gingen mitten durch eine Wiese mit Obstbäumen. Einige standen schon in voller Blüte. Vom Schulhaus her tönte Gesang »So nimm denn meine Hände und führe mich«. Der Turnplatz vor dem Schulhaus war leer. Ich klopfte an die Türe des Klassenzimmers, aus dem der Choral drang, und wir traten ein.
    Es waren Mädchen und Buben, die sangen. Kinder von sechs bis acht Jahren. Die drei untersten Klassen. Die Lehrerin dirigierte, ließ die Hände sinken und sah uns mißtrauisch entgegen. Die Kinder hörten auf zu singen.
    »Fräulein Krumm?«
    »Bitte?«
    »Die Lehrerin von Gritli Moser?«
    »Was wünschen Sie von mir?«
    Das Fräulein Krumm war gegen die vierzig, hager, mit großen verbitterten Augen.
    Ich stellte mich vor und wandte mich dann den Kindern zu.
    »Grüß Gott, Kinder!«
    Die Kinder sahen mich neugierig an.
    »Grüß Gott!« sagten sie.
    »Ein schönes Lied, das ihr da gesungen habt.«
    »Wir üben den Choral für Gritlis Beerdigung«, erklärte die Lehrerin.
    -3 2 -

    Im Sandkasten war Robinsons Insel aufgebaut. An den Wänden hingen Kinderzeichnungen.
    »Was war es denn für ein Kind, das Gritli?« fragte ich zögernd.
    »Wir liebten es alle«, sagte die Lehrerin.
    »Wie war seine Intelligenz?«
    »Es war ein äußerst phantasievolles Kind.«
    Ich zögerte aufs neue.
    »Ich sollte einige Fragen an die Kinder richten.«
    »Bitte.«
    Ich trat vor die Klasse. Die Mädchen trugen meistens noch Zöpfe und bunte Schürzen.
    »Ihr werdet gehört haben«, sagte ich, »was Gritli Moser zugestoßen ist. Ich bin von der Polizei, der Kommandant, das ist so etwas wie ein Hauptmann bei den Soldaten, und es ist meine Aufgabe, den Mann zu suchen, der das Gritli getötet hat. Ich will nun zu euch nicht wie zu Kindern, sondern wie zu Erwachsenen reden. Der Mann, den wir suchen, ist krank. Alle Männer sind krank, die so etwas tun. Und weil sie krank sind, versuchen sie, die Kinder in ein Versteck zu locken, um sie zu verletzen, in einen Wald oder in einen Keller, was es auch immer für verborgene Orte gibt, und das geschieht sehr oft; wir haben mehr als zweihundert Fälle im Kanton im Jahr. Und manchmal geschieht es dann eben, daß solche Männer ein Kind so schwer verletzen, daß es sterben muß, wie es dem Gritli ergangen ist. Wir müssen diese Männer deshalb einsperren. Sie sind zu gefährlich, um in Freiheit leben zu können. Ihr werdet nun fragen, weshalb wir sie nicht vorher einsperren, bevor es zu einem Unglück kommt wie dem mit dem Gritli? Weil es kein Mittel gibt, diese kranken Menschen zu erkennen. Sie sind innerlich krank, nicht äußerlich.«
    Die Kinder hörten atemlos zu.
    »Ihr müßt mir helfen«, fuhr ich fort. »Wir müssen den Mann finden, der das Gritli Moser getötet hat, sonst wird er wieder ein Mädchen töten.«
    Ich stand nun mitten unter den Kindern.
    -3 3 -

    »Erzählte Gritli, ein fremder Mann habe es angesprochen?«
    Die Kinder schwiegen.
    »Ist euch in letzter Zeit etwas an Gritli besonders aufgefallen?«
    Die Kinder wußten nichts.
    »Hat das Gritli in letzter Zeit etwas besessen, das es vorher nicht besaß?«
    Die Kinder antworteten nicht.
    »Wer war Gritlis beste Freundin?«
    »Ich«, flüsterte ein Mädchen.
    Es war ein winziges Ding mit braunen Haaren und braunen Augen.
    »Wie heißest du denn?« fragte ich.
    »Ursula Fehlmann.«
    »Du bist also Gritlis Freundin gewesen, Ursula.«
    »Wir saßen zusammen.«
    Das Mädchen sprach so leise, daß ich mich zu ihm niederbeugen mußte.
    »Und dir ist auch nichts aufgefallen?«
    »Nein.«
    »Gritli hat niemanden getroffen?«
    »Schon jemand«, antwortete das Mädchen.
    »Wen denn?«
    »Keinen Menschen«, sagte das Mädchen.
    Ich wunderte mich über diese Antwort.
    »Was willst du damit sagen, Ursula?«
    »Es hat einen Riesen getroffen«, sagte das Mädchen leise.
    »Einen Riesen?«
    »Ja«, sagte das Mädchen.
    »Du willst sagen, es sei einem großen Mann begegnet?«
    »Nein, mein Vater ist ein großer Mann, aber kein Riese.«
    »Wie groß

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