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Das Versprechen

Das Versprechen

Titel: Das Versprechen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Dürrenmatt
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alles, um das Mädchen an sich zu fesseln, an die Straße, an welcher er es haben mußte. Es blieb, zufrieden mit den Geschichten und Märchen. Die Automobilisten betrachteten das Paar verwundert oder gerührt als Idyll von Vater und Kind, schenkten dem Mädchen Schokolade, plauderten mit ihm, von Matthäi belauert. War dieser große schwere Mann der Lustmörder? Sein Wagen kam aus Graubünden. Oder jener lange, hagere, der nun mit dem Mädchen sprach? Inhaber einer Confiserie in Disentis, wie er schon längst heraus- gebracht hatte. Öl in Ordnung? Bitte sehr.
    Schütte noch einen halben Liter nach. Dreiundzwanzig zehn.
    Gute Reise dem Herrn. Er wartete und wartete. Annemarie liebte ihn, war zufrieden mit ihm; er hatte nur eines im Sinn, das Er- scheinen des Mörders. Es gab für ihn nichts als diesen Glauben an sein Erscheinen, nichts als diese Hoffnung, nur diese Sehnsucht, nur diese Erfüllung. Er stellte sich vor, wie der Bursche käme, gewaltig, linkisch, kindlich, voll Zutraulichkeit und Mordgier, wie er immer wieder erscheinen würde bei der Tankstelle, freundlich grinsend und feierlich gekleidet, ein pensionierter Eisenbahner etwa oder ein ausgedienter Zollbeamter; wie das Kind sich weglocken ließe, allmählich, wie er den beiden in den Wald hinter der Tankstelle folgen würde, geduckt, leise, wie er im entscheidenden Augenblick vorschnellen würde und wie es dann zum wilden blutigen Kampfe von Mann zu Mann käme, zur Entscheidung, zur Erlösung, und wie der Mörder dann vor ihm liegen würde, zerschlagen, winselnd, gestehend. Doch dann mußte er sich wieder sagen, daß dies alles unmöglich sei, weil er das Kind zu offensichtlich bewachte; daß er dem Kind mehr Freiheit lassen müsse, wenn er zu einem Resultat kommen wollte. Dann
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    entließ er Annemarie von der Straße, zog ihr aber heimlich nach, ließ die Tankstelle allein, vor der die Wagen ärgerlich tuteten. Das Mädchen hüpfte dann zum Dorf, einen Weg von einer halben Stunde, spielte mit Kindern bei den Bauernhäusern oder am Waldrand, doch kehrte es stets nach kurzem zurück. Es war an die Einsamkeit gewöhnt und scheu.
    Auch wurde es von den anderen Kindern gemieden. Dann änderte er die Taktik wieder, erfand neue Spiele, neue Märchen, lockte Annemarie wieder an sich. Er wartete und wartete. Unbeirrbar, unablenkbar. Ohne eine Erklärung abzugeben. Denn der Heller war die Aufmerksamkeit, die er dem Kinde schenkte, schon lange aufgefallen. Sie hatte nie geglaubt, daß Matthäi sie aus bloßer Gutmütigkeit zur Haushälterin genommen hatte. Sie spürte, daß er etwas beabsichtigte, doch war sie geborgen bei ihm, zum erstenmal vielleicht in ihrem Leben, und so dachte sie nicht weiter nach; vielleicht machte sie sich auch Hoffnungen, wer weiß, was in einem armen Weibe vorgeht; das Interesse jedenfalls, das Matthäi ihrem Kinde gegenüber zeigte, schrieb sie mit der Zeit einer echten Zuneigung zu, wenn auch manchmal ihr altes Mißtrauen und ihr alter Sinn für Realitäten wieder zum Vorschein kamen.
    »Herr Matthäi«, sagte sie einmal, »es geht mich zwar nichts an, aber ist der Kommandant der Kantonspolizei meinetwegen hierher gekommen?«
    »Aber nein«, antwortete Matthäi, »warum sollte er denn?«
    »Die Leute im Dorf reden über uns.«
    »Das ist doch unwichtig.«
    »Herr Matthäi«, begann sie von neuem, »hat Ihr Aufenthalt hier etwas mit Annemarie zu tun?«
    »Unsinn«, lachte er. »Ich liebe das Kind einfach, das ist alles, Frau Heller.«
    »Sie sind gut zu mir und Annemarie«, antwortete sie. »Wenn ich nur wüßte, weshalb.«
    Dann gingen die großen Ferien zu Ende; der Herbst war da, die Landschaft überdeutlich, rot und gelb, wie unter einer
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    gewaltigen Lupe. Matthäi war es, als ob eine große Gelegenheit verpaßt sei; dennoch wartete er weiter. Zäh und verbissen. Das Kind ging zu Fuß in die Schule, er ging ihm mittags und abends meistens entgegen, holte es mit seinem Wagen heim. Sein Vorhaben war immer unsinniger, unmöglicher, die Gewinnchance immer geringer, er wußte es genau; wie oft schon mußte der Mörder an der Tankstelle vorübergefahren sein, überlegte er, vielleicht täglich, sicher wöchentlich, und noch hatte sich nichts ereignet, noch tappte er im Dunkeln, noch zeigte sich kein Anhaltspunkt, nicht einmal die Spur eines Verdachts, nur Automobilisten, die kamen und gingen, bisweilen mit dem Mädchen schwatzten, harmlos, zufällig, undurchdringlich. Wer von ihnen war der Gesuchte, war es überhaupt einer

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