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Das Versprechen

Das Versprechen

Titel: Das Versprechen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Dürrenmatt
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Donnerstag, das Kind hatte nachmittags keine Schule; Gritli Moser wurde ebenfalls an einem Donnerstag ermordet, schoß es mir durch den Sinn. Es war ein heller Herbsttag, heiß, trocken, überall das Gesumm von Bienen und Wespen und anderen Insekten, Vogelgekreisch, ganz von fern hallende Axtschläge. Zwei Uhr, deutlich waren die Glocken vom Dorfe
    her zu hören, und dann erschien das Mädchen, brach mir gegenüber durch das Gesträuch, mühelos, hüpfend, springend, lief zum kleinen Bach mit seiner Puppe, setzte sich, schaute ohne Unterlaß gegen den Wald, aufmerksam, gespannt, mit glänzenden Augen, schien jemand zu erwarten, doch konnte es uns nicht sehen. Wir hatten uns hinter den Bäumen und Sträuchern verborgen. Dann kam Matthäi vorsichtig zurück, lehnte sich an einen Baumstamm in meiner Nähe, wie ich es ebenfalls tat.
    »Ich denke, in einer halben Stunde wird er kommen«, flüsterte er.
    Ich nickte.
    Es war alles aufs peinlichste organisiert. Der Zugang von der Hauptstraße her zum Walde war überwacht, sogar ein Funkgerät an Ort und Stelle. Wir waren alle bewaffnet, Revolver. Das Kind saß da am Bächlein, fast unbeweglich, voll staunender, banger, wundervoller Erwartung, den Abfallhaufen im Rücken, bald in der Sonne, bald im Schatten irgendeiner der großen dunklen Tannen; kein Laut war zu hören außer dem Summen der Insekten und dem Trillern der Vögel; nur manchmal sang das Mädchen vor sich hin mit seiner dünnen Stimme »Maria saß auf einem Stein«, immer wieder, immer die
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    gleichen Worte und Verse; und um den Stein herum, auf dem es saß, häuften sich rostig die Konservendosen, Kanister und Drähte; und manchmal, nur in unvermittelten Stößen, brauste der Wind über die Lichtung her, Laub tanzte auf, raschelte, und dann war es wieder still. Wir warteten. Es gab für uns nichts mehr in der Welt als diesen durch den Herbst verzauberten Wald mit dem kleinen Mädchen im roten Rock auf der Lichtung.
    Wir warteten auf den Mörder, entschlossen, gierig nach Gerechtigkeit, Abrechnung, Strafe. Die halbe Stunde war schon längst vorüber; eigentlich schon zwei. Wir warteten und warteten, warteten nun selbst, wie Matthäi wochen-, monatelang gewartet hatte. Es wurde fünf; die ersten Schatten, dann die Dämmerung, das Verblassen, das Stumpfwerden all der leuchtenden Farben. Das Mädchen hüpfte davon. Keiner von uns sagte ein Wort, nicht einmal Henzi.
    »Wir kommen morgen wieder«, bestimmte ich, »wir übernachten in Chur. Im >Steinbock<.«
    Und so warteten wir denn auch am Freitag und am Samstag.
    Eigentlich hätte ich graubündische Polizei nehmen müssen.
    Aber es war unsere Angelegenheit. Ich wollte keine Erklärungen abgeben müssen, wünschte keine Einmischung.
    Der Staatsanwalt rief schon am Donnerstagabend an, begehrte auf, protestierte, drohte, nannte alles einen Unsinn, tobte, verlangte unsere Rückkehr. Ich blieb fest, setzte unser Bleiben durch, ließ nur einen der Polizeisoldaten zurückkehren. Wir warteten und warteten. Es ging uns jetzt eigentlich nicht mehr um das Kind und nicht mehr um den Mörder, es ging uns um Matthäi, der Mann mußte recht behalten, an sein Ziel kommen, sonst geschah ein Unglück; wir fühlten es alle, sogar Henzi, der sich überzeugt gab, Freitagabend bestimmt erklärte, der unbekannte Mörder komme samstags, wir hätten ja den unumstößlichen Beweis, die Igel eben, dazu käme das Kind doch immer wieder, sitze regungslos an derselben Stelle, man sehe ja, daß es jemand erwarte. So standen wir in unseren Verstecken, hinter unseren Bäumen, Sträuchern, regungslos, stundenlang, starrten auf das Kind, auf die Konservenbüchsen, auf das Drahtgeschlinge, auf das Aschengebirge, rauchten
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    stumm vor uns hin, ohne miteinander zu sprechen, ohne uns zu bewegen, hörten immer wieder singen »Maria saß auf einem Stein«. Am Sonntag war die Lage schwieriger. Der Wald war plötzlich durchzogen von Spaziergängern, des anhaltenden schönen Wetters wegen; irgendein gemischter Chor mit Dirigent brach in die Lichtung ein, lärmend, schwitzend, hemdärmlig, stellte sich auf. Es dröhnte gewaltig: »Das Wandern ist des Müller Lust, das Wandern«. Zum Glück waren wir nicht in Uniform hinter unseren Sträuchern und Bäumen.
    »Die Himmel rühmen des Ewigen Ehre ...«, »doch uns geht's immer je länger je schlimmer«; später kam ein Liebespaar, benahm sich ungeniert, trotz der Anwesenheit des Kindes, das einfach dasaß, in unbegreiflicher Geduld, in unfaßlicher

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