Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Versprechen

Das Versprechen

Titel: Das Versprechen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Dürrenmatt
Vom Netzwerk:
schaute ihn erstaunt an: »In der Schule? Annemarie hatte doch frei, Lehrerkonferenz oder so.«
    Matthäi wurde aufmerksam. Die Enttäuschung der letzten Woche war auf einmal verflogen. Er witterte, daß die Erfüllung seines Hoffens, seiner wahnwitzigen Erwartung nahe war. Er beherrschte sich mit Mühe. Er fragte die Heller nicht mehr aus.
    Er drang auch nicht weiter in das Mädchen. Er fuhr aber am nächsten Nachmittag ins Dorf und ließ den Wagen in einer Seitengasse. Er wollte das Mädchen heimlich beobachten. Es ging gegen vier. Aus den Fenstern drang Singen, dann Geschrei, die Schüler kamen, tollten herum, Kämpfe zwischen Buben, Steine flogen, Mädchen Arm in Arm; doch war
    -8 5 -

    Annemarie nicht unter ihnen. Die Lehrerin kam, reserviert, Matthäi streng musternd. Er vernahm, daß Annemarie nicht in die Schule gekommen war, ob sie krank sei, schon vorgestern nachmittag sei sie nicht gekommen, und die Entschuldigung habe sie auch nicht gebracht. Matthäi antwortete, das Kind sein in der Tat krank, grüßte und fuhr wie von Sinnen in den Wald zurück. Er stürmte zur Lichtung, fand nichts. Erschöpft, schwer atmend, zerkratzt und blutend von den Dornen kehrte er zum Wagen zurück und fuhr zur Tankstelle, sah aber, bevor er sie erreichte, das Mädchen vor sich dem Straßenrand entlang hüpfend. Er hielt an.
    »Steig ein, Annemarie«, sagte er freundlich, nachdem er die Türe geöffnet hatte.
    Matthäi reichte dem Mädchen die Hand, und es kletterte ins Auto. Er stutzte. Das Händchen des Mädchens war klebrig. Und als er seine eigene Hand betrachtete, wies sie Spuren von Schokolade auf.
    »Von wem hast du Schokolade bekommen?« fragte er.
    »Von einem Mädchen«, antwortete Annemarie.
    »In der Schule?«
    Annemarie nickte. Matthäi antwortete nichts. Er fuhr den Wagen vor das Haus. Annemarie kletterte hinaus und setzte sich auf die Bank neben der Tankstelle. Matthäi beobachtete sie unauffällig. Das Kind schob etwas in den Mund und kaute.
    Er kam langsam auf das Mädchen zu.
    »Zeig her«, sagte er und öffnete vorsichtig das leicht geballte Händchen des Mädchens. Darin lag eine angebissene stachelige Schokoladekugel. Eine Trüffel.
    »Hast du noch mehr davon?« fragte Matthäi. Das Mädchen schüttelte den Kopf.
    Der Kommissär griff in Annemaries Rocktasche, zog das Taschentuch hervor, wickelte es auf; zwei weitere Trüffel lagen darin.
    Das Mädchen schwieg.
    -8 6 -

    Auch der Kommissär sagte nichts. Ein ungeheures Glück bemächtigte sich seiner. Er setzte sich neben das Kind auf die Bank.
    »Annemarie«, fragte er endlich, und seine Stimme zitterte, während er die beiden stacheligen Schokoladekugeln sorgfältig in der Hand behielt.
    »Der Zauberer hat sie dir gegeben?«
    Das Mädchen schwieg.
    »Er hat dir verboten, von euch zu erzählen?« fragte Matthäi.
    Keine Antwort.
    »Das sollst du auch nicht«, sagte Matthäi freundlich. »Er ist ein lieber Zauberer. Geh nur morgen wieder zu ihm.«
    Das Mädchen strahlte auf einmal wie in gewaltiger Freude, umarmte Matthäi, heiß vor Glück, und rannte dann in sein Zimmer hinauf.
    Am nächsten Morgen, um acht, ich war soeben in meinem Büro angekommen, legte mir Matthäi die Trüffeln auf den Schreibtisch; er grüßte kaum vor Erregung. Er war in seinem früheren Anzug, doch ohne Krawatte und unrasiert. Er nahm sich eine Zigarre aus der Kiste, die ich ihm hinschob, paffte los.
    »Was soll ich mit dieser Schokolade?« fragte ich hilflos.
    »Die Igel«, antwortete Matthäi.
    Ich schaute ihn überrascht an, drehte die kleinen Schokoladekugeln hin und her. »Wieso?«
    »Ganz einfach«, erklärte er, »der Mörder gab dem Gritli Moser Trüffeln, und es machte daraus Igel. Die Kinderzeichnung ist enträtselt.«
    Ich lachte: »Wie wollen Sie das beweisen?«
    »Nun, das gleiche ist mit Annemarie geschehen«, antwortete Matthäi und berichtete.
    Ich war auf der Stelle überzeugt. Ich ließ Henzi, Feller und vier Polizeisoldaten kommen, gab meine Anweisungen und unterrichtete den Staatsanwalt. Dann fuhren wir los. Die
    -8 7 -

    Tankstelle war verwaist. Frau Heller hatte das Kind in die Schule gebracht und war dann in die Fabrik gegangen.
    »Weiß die Heller, was vorgefallen ist?« fragte ich.
    Matthäi schüttelte den Kopf. »Sie ist ahnungslos.«
    Wir gingen zur Lichtung. Wir untersuchten sie sorgfältig, doch fanden wir nichts. Dann verteilten wir uns. Es ging gegen Mittag; Matthäi kehrte zur Tankstelle zurück, um keinen Verdacht zu erregen. Der Tag war günstig,

Weitere Kostenlose Bücher