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Das Versprechen

Das Versprechen

Titel: Das Versprechen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Dürrenmatt
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Erwartung, nun doch schon vier Nachmittage lang. Wir warteten und warteten. Die drei Polizeisoldaten waren nun auch zurückgekehrt samt dem Funkgerät; wir waren nur noch zu viert, außer Matthäi und mir nur noch Henzi und Feller, wenn auch das eigentlich nicht mehr zu verantworten war, aber genau besehen, kamen nur drei Nachmittage in Betracht, an denen wir gewartet hatten, da am Sonntag für den Mörder das Terrain zu unsicher gewesen sein mußte; da hatte Henzi recht, und so warteten wir denn auch am Montag. Dienstagmorgen reiste auch Henzi zurück. Irgend jemand mußte schließlich in der Kasernenstraße zum Rechten sehen. Doch war Henzi bei seiner Abreise immer noch von unserem Erfolg überzeugt. Wir warteten und warteten und warteten, lauerten und lauerten, jeder nun unabhängig von den andern, da wir ja doch zu wenige waren, um eine richtige Organisation aufzuziehen.
    Feller hatte sich in der Nähe des Waldweges hinter einem Gesträuch postiert, wo er im Schatten lag, vor sich hin döste in der sommerlichen Herbsthitze und einmal auch so heftig schnarchte, daß der Wind sein Schnarchen über die Lichtung hinwehte; es war dies am Mittwoch. Matthäi dagegen stand auf der Seite der Lichtung, die gegen die Tankstelle lag, und ich beobachtete den Schauplatz von der andern Seite, ihm gegenüber. So lauerten wir und lauerten, erwarteten den Mörder, den Igelriesen, zuckten bei jedem fahrenden Auto zusammen, das wir von der Landstraße her hörten, das Kind
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    zwischen uns, das jeden Nachmittag in der Lichtung am kleinen Bach saß, singend »Maria saß auf einem Stein«, stur, versponnen, unbegreiflich; wir begannen es zu verabscheuen, zu hassen. Manchmal kam es natürlich lange nicht, trieb sich in der Nähe des Dorfes herum mit seiner Puppe, doch nicht in allzu großer Nähe, da es ja die Schule schwänzte, was auch nicht ohne Schwierigkeit abgegangen war und ein Gespräch meinerseits unter vier Augen mit der Lehrerin notwendig gemacht hatte, um Recherchen seitens der Schule zu vermeiden. Ich tönte vorsichtig den Sachverhalt an, wies mich aus, erlangte eine zögernde Einwilligung. Das Kind umkreiste dann den Wald, wir verfolgten es mit Feldstechern, doch kehrte es immer wieder in die Waldlichtung zurück - außer am Donnerstag, wo es zu unserer Verzweiflung in der Nähe der Tankstelle blieb. So mußten wir, ob wir wollten oder nicht, auf Freitag hoffen. Nun hatte ich mich zu entscheiden; Matthäi war schon lange verstummt, stand hinter seinem Baum, als das Kind am andern Tage wieder gehüpft kam mit seinem roten Kleide und seiner Puppe, sich niedersetzte wie an den Vortagen. Herrliches Herbstwetter, das anhielt, immer noch stark, farbig, voll Nähe, ein Kraftstrotzen vor dem Verfall; aber der Staatsanwalt hielt es kaum eine halbe Stunde aus. Er war gegen fünf Uhr abends gekommen, im Wagen mit Henzi, erschien ganz unvermutet, tauchte einfach auf, trat zu mir, der ich schon seit ein Uhr mittags da stand, immer von einem Fuß auf den andern wechselnd, starrte zum Kinde hinüber, rot vor Zorn, »Maria saß auf einem Stein«, wehte das Stimmlein zu uns herüber; ich konnte das Lied schon längst nicht mehr hören und das Kind schon längst nicht mehr sehen, seinen gräßlichen Mund mit den Zahnlücken, die dünnen Zöpfe, das geschmacklose rote Kleidchen; das Mädchen schien mir nun widerlich, gemein, ordinär, dumm, ich hätte es erwürgen können, töten, zerreißen, nur um das blödsinnige »Maria saß auf einem Stein« nicht mehr zu vernehmen. Es war zum Wahnsinnigwerden. Alles war da, wie es immer da war, stupid, sinnlos, trostlos, nur daß das Laub sich immer mächtiger häufte, die Windstöße sich vielleicht mehrten und die Sonne noch goldiger über dem idiotischen Abfallhaufen lag; es war
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    nicht mehr zum Ertragen, und dann stampfte der Staatsanwalt auf einmal los, es war wie eine Befreiung, brach durch das Gestrüpp, schritt geradewegs zum Kinde, gleichgültig dagegen, daß er schuhtief in die Asche sank, und als wir ihn zum Kinde marschieren sahen, brachen wir auch hervor; nun mußte Schluß gemacht werden.
    »Auf wen wartest du?« schrie der Staatsanwalt das Mädchen an, das ihn erschrocken auf seinem Steine anstarrte, die Puppe umklammernd. »Auf wen wartest du, willst du antworten, du verdammtes Ding?«
    Und nun hatten wir das Mädchen alle erreicht, umringten es, und es starrte uns an voll Entsetzen, voll Grauen, voll Nichtbegreifen.
    »Annemarie«, sagte ich, und meine Stimme zitterte

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