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Das Versprechen

Das Versprechen

Titel: Das Versprechen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Dürrenmatt
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vor Zorn,
    »du hast Schokolade bekommen vor einer Woche. Du wirst dich genau daran erinnern, Schokolade wie kleine Igel. Hat dir ein Mann in schwarzen Kleidern diese Schokolade gegeben?«
    Das Mädchen antwortete nicht, schaute mich nur an, Tränen in den Augen.
    Nun kniete Matthäi vor dem Kinde nieder, umfaßte die kleinen Schultern. »Sieh, Annemarie«, erklärte er ihm, »du mußt uns sagen, wer dir die Schokolade gab. Du mußt genau erzählen, wie dieser Mann aussah. Ich kannte einmal ein Mädchen«, fuhr er eindringlich fort, ging es doch jetzt um alles, »ein Mädchen, auch so in einem roten Röcklein wie du, dem gab ein großer Mann in schwarzen Kleidern auch Schokolade. Die gleichen stachligen Kügelchen, wie du sie gegessen hast. Und dann ist das Mädchen mit dem großen Manne in den Wald gegangen, und dann hat der große Mann das Mädchen mit einem Messer getötet.«
    Er schwieg. Das Mädchen antwortete immer noch nichts, starrte ihn schweigend an, die Augen weit aufgerissen.
    »Annemarie«, schrie Matthäi, »du mußt mir die Wahrheit sagen. Ich will doch nur, daß dir nichts Böses geschieht.« »Du lügst«, antwortete das Mädchen leise. »Du lügst.« Da verlor der Staatsanwalt zum zweitenmal die Geduld. »Du dummes Ding«,
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    schrie er und packte das Kind am Arm, rüttelte es, »willst du jetzt sagen, was du weißt!« Und wir schrien mit, sinnlos, weil wir einfach die Nerven verloren hatten, rüttelten das Mädchen ebenfalls, begannen auf das Kind einzuschlagen, verprügelten den kleinen Leib, der zwischen den Konservenbüchsen in Asche und rotem Laub lag, regelrecht, grausam, wütend, schreiend.
    Das Mädchen ließ unser Toben stumm über sich ergehen, eine Ewigkeit lang, wenn auch alles sicher nur wenige Sekunden dauerte, schrie dann aber mit einem Male mit einer so unheimlichen Stimme auf, daß wir erstarrten. »Du lügst, du lügst, du lügst!« Wir ließen es entsetzt fahren, durch sein Gebrüll wieder zur Vernunft gekommen und von Grauen und Scham über unser Vorgehen erfüllt.
    »Wir sind Tiere, wir sind Tiere«, keuchte ich. Das Kind rannte über die Lichtung dem Waldrand entgegen. »Du lügst, du lügst, du lügst«, schrie es dabei aufs neue und so grauenhaft, daß wir dachten, es sei von Sinnen, doch lief es geradewegs der Heller in die Arme, die nun auch zu allem Unglück auf der Lichtung erschien. Die hatte uns noch gefehlt. Sie war über alles informiert; die Lehrerin hatte eben doch geschwatzt, als die Frau an der Schule vorbeigegangen war; ich wußte es, ohne daß ich zu fragen brauchte. Und nun stand diese Unglücksfrau da mit ihrem Kinde, das sich schluchzend an ihren Schoß preßte, und starrte uns mit dem gleichen Blick an wie vorhin die Tochter. Natürlich kannte sie jeden von uns, Feller, Henzi und leider auch den Staatsanwalt; die Situation war peinlich und grotesk, wir waren alle verlegen und kamen uns lächerlich vor; das Ganze war nichts weiter als eine lausige, hundserbärmliche Komödie. »Lügt, lügt, lügt«, schrie das Kind immer noch außer sich, »lügt, lügt, lügt.« Da ging Matthäi auf die beiden zu, ergeben, unsicher.
    »Frau Heller«, sagte er höflich, ja demütig, was doch ganz unsinnig war, weil es jetzt nur eines gab, Schluß machen mit der ganzen Sache, Schluß, Schluß für immer, den Fall erledigen, endlich einmal loskommen von all den Kombinationen, mochte es den Mörder geben oder nicht. »Frau
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    Heller, ich habe festgestellt, daß Annemarie von einer unbekannten Person Schokolade bekam. Ich habe den Verdacht, daß es sich um die gleiche Person handeln muß, die vor einigen Wochen ein Mädchen mit Schokolade in einen Wald gelockt und getötet hat.«
    Er sprach exakt und in einem so amtlichen Ton, daß ich hätte laut herauslachen können. Die Frau sah ihm ruhig ins Gesicht.
    Dann sprach sie ebenso förmlich und höflich wie Matthäi. »Herr Doktor Matthäi«, fragte sie leise, »haben Sie Annemarie und mich in Ihre Tankstelle genommen, nur um diese Person zu finden?«
    »Es gab keinen anderen Weg, Frau Heller«, antwortete der Kommissär.
    »Sie sind ein Schwein«, antwortete die Frau ruhig, ohne eine Miene zu verziehen, nahm ihr Kind und ging in den Wald hinein, gegen die Tankstelle zu.
    Wir standen da, auf der Lichtung, schon halb im Schatten, umgeben von den alten Konservenbüchsen und von Drahtgeschlinge, die Füße in Asche und Laub. Alles war vorüber, das ganze Unternehmen sinnlos, lächerlich geworden.
    Ein Debakel, eine

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