Das Versteck
weder Hatch noch Lindsey über das Benehmen des Mädchens empört zu sein schienen, fühlte niemand sich ermächtigt, das Gespräch zu beenden oder dem Kind auch nur Vorwürfe zu machen.
»Tut mir leid, dich enttäuschen zu müssen«, sagte Hatch.
»Wir sind nicht reich, obwohl es uns an nichts fehlt. Wir leben ganz gut, aber wir haben keinen Rolls-Royce, und wir tragen keine Kaviar-Pyjamas.«
Ein Schimmer echter Belustigung huschte über Reginas Gesicht, aber sie unterdrückte ihn hastig und wandte sich Lindsey zu. »Und was ist mit Ihnen?«
Lindsey blinzelte und räusperte sich. »Äh … also, ich bin Künstlerin. Malerin.«
»Wie Picasso?«
»Das ist nicht mein Stil, aber ich nehme meine Kunst wahrscheinlich genauso ernst wie er.«
»Ich habe einmal ein Bild gesehen, auf dem Hunde Poker spielten«, sagte das Mädchen. »Haben Sie das zufällig gemalt?«
»Leider nein.«
»Gott sei Dank. Es war ein blödes Bild. Und einmal habe ich eins mit einem Stier und einem Stierkämpfer gesehen, auf Samt gemalt, mit sehr leuchtenden Farben. Malen Sie mit leuchtenden Farben auf Samt?«
»Nein«, erwiderte Lindsey, »aber wenn dir so was gefällt, könnte ich dir für dein Zimmer etwas Schönes auf Samt malen.«
Regina verzog das Gesicht. »Puh! Lieber würde ich mir eine tote Katze an die Wand hängen!«
Die Leute von St. Thomas konnte nichts mehr erschüttern. Der jüngere Priester lächelte sogar, und Schwester Immaculata murmelte »tote Katze« vor sich hin, nicht etwa empört, sondern eher zustimmend, weil selbst so ein makabrer Wandschmuck einem Gemälde auf Samt immer noch vorzuziehen wäre.
Lindsey wollte ihren Ruf retten, nachdem sie sich erboten hatte, etwas so Schreckliches zu malen. »Mein Stil wird im allgemeinen als Mischung von Neoklassizismus und Surrealismus beschrieben. Ich weiß, daß sich das ziemlich großkotzig anhört …«
»Na ja, nicht gerade meine Lieblingsrichtung«, erklärte Regina im Brustton der Überzeugung, als würde sie diese Stilarten bestens kennen und wüßte auch, wie eine Mischung daraus aussehen mußte. »Wenn ich bei Ihnen leben würde und mein eigenes Zimmer hätte, würden Sie mich doch nicht zwingen, die Wände mit Ihren Bildern vollzuhängen, oder?« Sie betonte das »Ihren« so stark, als wollte sie ein für allemal klarmachen, daß ihr eine tote Katze immer noch lieber wäre, auch wenn hier kein Samt mit im Spiel war.
»Nicht eins«, versicherte Lindsey.
»Gut.«
»Glaubst du denn, daß es dir gefallen könnte, mit uns zu leben?« fragte Lindsey, und Hatch überlegte, ob diese Aussicht sie wohl freudig erregte oder eher erschreckte.
Die Kleine rappelte sich abrupt aus dem Stuhl hoch und schwankte heftig, als sie auf die Beine kam, so als würde sie gleich kopfüber auf den Tisch fallen. Hatch sprang auf, um sie aufzufangen, obwohl er vermutete, daß auch das zu ihrer Komödie gehörte. Als sie ihr Gleichgewicht wiedererlangt hatte, stellte sie das leere Glas ab und verkündete: »Ich muß dringend pinkeln. Ich habe nämlich eine schwache Blase. Das kommt auch von den mutierten Genen. Ich habe mich nicht unter Kontrolle. Ich habe immer Angst, daß mir an den unpassendsten Orten, wie etwa hier in Mr. Gujilios Büro, ein Mißgeschick passiert, und das sollten Sie auch noch in Betracht ziehen, bevor Sie mich aufnehmen. Wahrscheinlich haben Sie eine ganze Menge schöner Sachen, wo Sie ja in der Antiquitäten- und Kunstbranche sind. Sie hängen bestimmt an diesem Zeug, und stellen Sie sich nur mal vor, was los wäre, wenn ich ständig Sachen zerbreche oder auf irgendwas besonders Kostbares pinkle. Dann würden Sie mich auf schnellstem Wege ins Waisenhaus zurückschicken, und ich würde mir das so zu Herzen nehmen, daß ich aufs Dach raufklettern und mich in die Tiefe stürzen würde. Ein höchst tragischer Selbstmord, den bestimmt keiner von uns will. War nett, Sie kennenzulernen.«
Sie machte eine Kehrtwendung und humpelte über den Perserteppich und aus dem Zimmer, wobei sie wieder dieses grandiose RUMS! Schlurrrf … vollführte, das zweifellos einem ähnlichen Talent entsprang wie ihre Bauchrednerkünste. Ihr kastanienbraunes Haar wippte und schimmerte wie Feuer.
Alle standen schweigend da und lauschten auf die Schritte des Mädchens, die sich langsam entfernten. Einmal prallte es offenbar hart gegen eine Wand, hinkte aber sogleich tapfer weiter.
»Sie hat keine schwache Blase«, sagte Pater Jiminez und trank einen großen Schluck der bernsteinfarbenen
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