Das Versteck
ließ oder auch nur kräftig dagegen schlug. Aber wenn man sie auf ihrem Acrylregal länger betrachtete, waren die handgemalten Tempel- und Gartenszenen auf den Seitenflächen und die Blumenornamente am inneren Rand so eindrucksvoll und zeugten von solchem Können und solcher Inspiration, daß man sich ehrfürchtig des Alters und der Geschichte des Stücks bewußt wurde. Und plötzlich war man davon überzeugt, daß das zerbrechliche Äußere täuschte und diese Schale, wenn man sie fallen ließe, nicht den kleinsten Riß davontrüge, sondern beim Aufprall jedwedes andere Material zertrümmern würde.
Regina war offenbar fest entschlossen, ihren großen Auftritt möglichst wirkungsvoll zu inszenieren. Während sie auf das Sofa zuhumpelte, dämpfte der antike Perserteppich allerdings beträchtlich den Lärm, den sie verursachte. Sie trug eine weiße Bluse, einen kurzen grünen Rock, grüne Kniestrümpfe, schwarze Schuhe – und am rechten Bein eine Metallschiene, die vom Knöchel bis übers Knie reichte und wie ein mittelalterliches Folterinstrument aussah. Bei jedem Schritt schwankte sie so stark in den Hüften, als würde sie gleich umfallen.
Schwester Immaculata erhob sich aus ihrem Lehnstuhl und betrachtete Regina mißbilligend. »Was soll dieses Theater, junge Dame?«
Das Mädchen tat so, als hätte es die Frage der Nonne nicht verstanden. »Es tut mir leid, daß ich so spät komme, Schwester, aber an manchen Tagen geht es mir eben besonders schlecht.« Bevor die Nonne etwas erwidern konnte, wandte sich die Kleine Hatch und Lindsey zu, die aufgestanden waren und sich nun nicht mehr bei den Händen hielten. »Hallo, ich bin Regina. Ich bin ein Krüppel.« Sie streckte ihre rechte Hand aus. Hatch ebenfalls. Erst im letzten Moment bemerkte er, daß Arm und Hand mißgebildet waren. Der Arm war bis zum Handgelenk fast normal, nur etwas dünner als der linke, knickte dann aber scharf ab und ging nicht in eine komplette Hand über, sondern in nur zwei Finger und einen Daumenstumpf, die zudem nur begrenzt beweglich zu sein schienen. Dem Mädchen die Hand zu geben, war ein seltsames Gefühl – aber nicht unangenehm.
Ihre grauen Augen fixierten ihn aufmerksam. Sie wollte seine Reaktion testen. Er wußte sofort, daß es unmöglich sein würde, ihr jemals etwas vorzumachen, und er war heilfroh, daß ihre verkrüppelte Hand ihn nicht im geringsten abstieß.
»Ich freue mich sehr, dich kennenzulernen, Regina«, sagte er. »Ich bin Hatch Harrison, und das ist meine Frau Lindsey.«
Das Mädchen gab auch Lindsey die Hand. »Nun, ich weiß, daß ich eine Enttäuschung für Sie bin«, sagte es. »Alle Frauen, die nach Kindern ausgehungert sind, wollen doch Babies, die sie hätscheln können …«
Die Nonne ohne Namen schnappte schockiert nach Luft. »Regina, also wirklich!«
Schwester Immaculata hatte es völlig die Sprache verschlagen. Sie war wie vom Schlag gerührt und sah mit ihren weit aufgerissenen Augen und dem offenen Mund einem erfrorenen Pinguin ähnlich, der eine arktische Kältewelle nicht überlebt hat. Pater Jiminez verließ seinen Standort am Fenster und trat näher ans Sofa heran. »Mr. und Mrs. Harrison, ich entschuldige mich für …«
»Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen«, fiel Lindsey ihm hastig ins Wort. Sie spürte ebenso wie Hatch, daß das Mädchen sie auf die Probe stellte, und wenn sie diese Prüfung bestehen wollten, durften sie sich auf gar keinen Fall an einer Koalition der Erwachsenen gegen die Kleine beteiligen.
Regina quälte sich mühsam in den zweiten Lehnstuhl, und Hatch war ziemlich sicher, daß sie dabei absichtlich viel ungeschickter tat, als sie es in Wirklichkeit war.
Die Norme ohne Namen berührte sanft Schwester Immaculatas Schulter, und diese nahm wieder Platz, immer noch mit der Miene eines erfrorenen Pinguins. Die beiden Priester schoben die Besucherstühle vor dem Schreibtisch näher ans Sofa heran, und die jüngere Nonne holte sich einen Stuhl aus einer Zimmerecke und nahm neben den anderen Platz. Als Hatch bemerkte, daß er als einziger noch stand, setzte er sich wieder neben Lindsey auf das Sofa.
Nachdem nun alle versammelt waren, bestand Salvatore Gujilio darauf, Getränke zu servieren – Pepsi, Ginger Ale oder Perrier –, wobei er auf die Dienste seiner Sekretärin verzichtete und selbst alles Notwendige aus der Bar holte, die diskret in einem mahagonigetäfelten Eckschrank des eleganten Büros untergebracht war. Der Hüne bewegte sich erstaunlich lautlos und
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