Das Versteck
ich habe auch verdammt wenig Gefühl darin.« Sie ballte ihre deformierte rechte Hand zu einer Art Faust und schlug sich so fest auf den rechten Oberschenkel, daß Gujilio zusammenzuckte. Der Anwalt versuchte gerade, dem jüngeren Priester, der das Mädchen wie hypnotisiert anstarrte, ein Glas Ginger Ale in die Hand zu drücken. Sie schlug noch einmal zu und erklärte: »Sehen Sie? Totes Fleisch. Und wenn wir schon bei Fleisch sind – ich stelle mich ziemlich an mit dem Essen, weil ich nämlich einfach kein totes Fleisch runterkriege. Oh, ich will damit nicht sagen, daß ich lebende Tiere esse. Aber ich bin Vegetarierin, und das wäre für Sie ziemlich kompliziert, sogar einmal angenommen, daß es Ihnen nichts ausmacht, daß ich kein Hätschelbaby bin, das man süß anziehen kann. Mein einziger Vorzug ist meine Intelligenz – ich bin nämlich fast ein Genie und sehr reif für mein Alter. Aber manche Leute sehen sogar darin eher einen Nachteil, weil ich mich oft nicht wie ein Kind benehme …«
»Jetzt benimmst du dich mit Sicherheit wie ein sehr unreifes Kind«, warf Schwester Immaculata ein, sichtlich erfreut, diesen Pfeil abschießen zu können.
Aber Regina ignorierte sie total. »… und was Sie wollen, ist ja schließlich ein Kind, ein süßes, ahnungsloses Balg zum Vorzeigen, das unter Ihrer Anleitung lernt und erblüht, während ich schon auf eigene Faust ganz schön aufgeblüht bin. Intellektuell, meine ich. Titten habe ich nämlich noch keine. Ich langweile mich beim Fernsehen, was bedeutet, daß ich bei einem gemütlichen Familienabend vor der Glotze nicht mit von der Partie wäre, und ich bin allergisch gegen Katzen, falls Sie eine haben, und ich bin sehr eigenwillig, was manche Leute bei einem zehnjährigen Mädchen unausstehlich finden.« Sie nippte an ihrer Pepsi und lächelte ihnen zu. »Also, ich glaube, das war's in etwa.«
»Sie ist sonst nie so«, murmelte Pater Jiminez, mehr zu sich selbst oder zu Gott als zu Hatch und Lindsey. Er trank die Hälfte seines Perriers in einem Zug, so als benötigte er eigentlich dringend etwas Härteres.
Hatch warf Lindsey einen forschenden Blick zu. Ihre Augen waren etwas glasig, und sie schien nicht zu wissen, was sie sagen sollte.
Deshalb wandte er sich selbst an das Mädchen. »Ich glaube, es ist nur fair, wenn ich dir jetzt etwas über uns erzähle.«
Schwester Immaculata stellte ihr Glas ab und machte Anstalten aufzustehen. »Mr. Harrison, Sie brauchen sich wirklich nicht zu …«
Hatch bedeutete der Nonne mit einer höflichen Geste, sitzen zu bleiben. »Nein, nein. Alles ist in bester Ordnung. Regina ist einfach ein bißchen nervös …«
»Nicht besonders«, widersprach Regina.
»Natürlich bist du nervös«, beharrte Hatch.
»Nein.«
»Du bist genauso nervös wie Lindsey und ich. Das ist doch ganz natürlich.« Er lächelte dem Mädchen so gewinnend zu, wie er nur konnte. »Ja, also … Ich habe mich von jeher für Antiquitäten interessiert. Ich liebe Dinge, die Bestand und einen ausgeprägten Charakter haben, und ich habe mein eigenes Antiquitätengeschäft mit zwei Angestellten. Damit verdiene ich meinen Lebensunterhalt. Aus Fernsehen mache ich mir selber nicht allzuviel, und …«
»Ist Hatch eine Abkürzung?« fiel das Mädchen ihm unerwartet ins Wort. Es kicherte, um anzudeuten, daß bestenfalls ein sprechender Goldfisch einen so albernen Namen haben könnte.
»Mein richtiger Vorname ist Hatchford.«
»Das hört sich immer noch komisch an.«
»Dafür mußt du meine Mutter verantwortlich machen«, sagte Hatch. »Sie hat immer geglaubt, mein Vater würde eines Tages viel Geld verdienen, und dann würden wir gesellschaftlich aufsteigen, und ihrer Meinung nach hörte sich Hatchford nach echter Oberschicht an: Hatchford Benjamin Harrison. Es gab nur einen Namen, der ihr noch besser gefallen hätte – Hatchford Benjamin Rockefeller.«
»Und hat er's geschafft?« wollte das Mädchen wissen. »Wer und was?«
»Hat Ihr Vater eine Menge Geld verdient?« Hatch zwinkerte Lindsey zu. »Sieht ganz so aus, als hätten wir's mit einer Goldgräberin zu tun.«
»Wenn Sie nämlich reich wären«, erklärte Regina, »wäre das natürlich eine Überlegung wert.«
Schwester Immaculata stieß hörbar den Atem aus, und die Nonne ohne Namen lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und schloß resigniert die Augen. Pater Jiminez stand auf, winkte Gujilio aus dem Weg und begab sich zur Bar, um etwas Stärkeres als Pepsi, Ginger Ale oder Perrier zu holen. Weil
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