Das Versteck
Diese Vergewaltigung ärgerte ihn, und er fürchtete seinen Zorn mehr als den Unbekannten, mehr als den übernatürlichen Aspekt der Angelegenheit, mehr noch als die Möglichkeit eines Gehirnschadens. Er hatte Angst, in irgendeiner extremen Situation doch noch entdecken zu müssen, daß er den Jähzorn seines Vaters geerbt hatte, daß dieser Jähzorn nur darauf lauerte, geweckt zu werden.
»Es ist ein Mordfall«, sagte er. »Da wird jeder Hinweis ernst genommen, auch ein anonymer. Ich habe jedenfalls nicht vor, jemals wieder Schlagzeilen zu machen.«
Vom Restaurant fuhren sie quer durch die Stadt zu Harrison's Antiques, wo Lindsey im obersten Stockwerk ein Atelier hatte, zusätzlich zu dem in ihrem Haus. Wenn sie malte, wirkte ein regelmäßiger Wechsel der Umgebung auf sie erfrischend und inspirierend.
Während der Fahrt war manchmal zwischen den Häusern auf der rechten Straßenseite ein kleiner Ausschnitt des in der Sonne funkelnden Ozeans zu sehen. Aber Lindsey ließ sich auch im Auto nicht von dem Thema abbringen, mit dem sie ihren Mann während des Frühstücks gequält hatte, denn sie wußte, daß Hatchs einziger ernsthafter Charakterfehler die Neigung war, alles auf die leichte Schulter zu nehmen. Jimmys Tod war die einzige schlimme Erfahrung seines ganzen Lebens, bei der die Taktik versagt hatte, etwas zu vereinfachen, als unwichtig abzutun und zu verdrängen. Und sogar in diesem Fall hatte er versucht, seine Trauer zu unterdrücken, anstatt sie bewußt zu bewältigen; gerade dadurch hatte sie ungesunde Ausmaße annehmen können. Wenn sie ihm nicht zusetzte, würde er nach kürzester Zeit auch die Bedeutung dieser unerklärlichen Ereignisse herunterzuspielen versuchen.
»Du mußt trotzdem mit Nyebern sprechen«, sagte sie.
»Vermutlich …« – »Unbedingt!«
»Falls es ein Gehirnschaden ist, falls das die Ursache dieser übersinnlichen Phänomene ist, handelt es sich um einen segensreichen Gehirnschaden, das hast du selbst gesagt.«
»Aber vielleicht ist er degenerativ, vielleicht wird er schlimmer werden.«
»Das glaube ich nun wirklich nicht«, widersprach er. »Ich fühle mich ansonsten prächtig.«
»Du bist aber kein Arzt.«
»Also gut«, gab er nach. Er bremste an der Ampel vor der Kreuzung, die zum öffentlichen Strand im Zentrum der Stadt führte. »Ich rufe ihn an. Aber wir müssen heute nachmittag zu Gujilio.«
»Du kannst Nyebern vorher einschieben, wenn er Zeit für dich hat.«
Hatchs Vater war ein Haustyrann gewesen, ein jähzorniger Mann mit scharfer Zunge, der seine Frau wie eine Dienstmagd herumkommandierte und seinen Sohn mit Schimpftiraden, Hohn und Spott, beißendem Sarkasmus und wilden Drohungen einschüchterte. Alles und nichts konnte Hatchs Vater in Wut versetzen, denn insgeheim liebte er Ärger und suchte geradezu nach immer neuen Gründen. Er war ein Mann, der glaubte, niemals glücklich sein zu können – und er sorgte selbst dafür, daß sein Schicksal sich erfüllte, indem er sich und seine ganze Umgebung unglücklich machte.
Vielleicht befürchtete Hatch, daß auch er eine Anlage zu diesem mörderischen Jähzorn haben könnte, vielleicht hatte es in seinem Leben aber auch einfach schon zu viele Turbulenzen gegeben; jedenfalls hatte er sich bewußt bemüht, so freundlich und mild zu sein, wie sein Vater gereizt und übellaunig war, so großmütig, wie sein Vater nachtragend war, so tolerant, wie sein Vater engstirnig war; er war fest entschlossen, alle Schicksalsschläge des Lebens hinzunehmen, anstatt wie sein Vater sogar bei imaginären Hieben sofort zurückzuschlagen. Und es war ihm gelungen: er war der netteste Mann, den Lindsey je gekannt hatte, um Lichtjahre netter als jeder andere. Oder worin wurde Nettigkeit sonst gemessen? Wagenladungen, Haufen, Kübeln? Manchmal ging Hatch aus übertriebenem Harmoniebedürfnis aber allen Unannehmlichkeiten einfach aus dem Wege. Er scheute jede Konfrontation, weil er nicht riskieren wollte, daß ihn irgendwelche negativen Gefühle überwältigten, die auch nur im entferntesten an den Jähzorn und die Paranoia seines alten Herrn erinnerten.
Die Ampel schaltete von Rot auf Grün, aber drei junge Frauen in Bikinis überquerten noch die Straße, beladen mit Strandzubehör, unterwegs zum Meer. Hatch wartete nicht nur geduldig, sondern betrachtete mit wohlgefälligem Lächeln die spärlich bekleideten Strandnixen.
»Ich nehme alles zurück«, sagte Lindsey.
»Was denn?«
»Ich dachte gerade, was für ein netter Mann du
Weitere Kostenlose Bücher