Das Versteck
interessierte sie sich für die Bilder, um Abbitte für ihre unverschämten Bemerkungen in Mr. Gujilios Kanzlei über Gemälde auf Samt zu leisten.
Irgendwie kam sie durchs ganze Haus, ohne etwas zu beschädigen, und das letzte Zimmer war ihres. Es war größer als alle Zimmer im Waisenhaus, und sie mußte es mit niemandem teilen. Die Fenster hatten weiße Holzläden. Die Einrichtung bestand aus einem Eckschreibtisch mit passendem Stuhl, einem Bücherschrank, einem Lehnstuhl mit Fußschemel, Nachttischen mit passenden Lampen – und einem herrlichen Bett.
»Es ist um 1850 angefertigt worden«, sagte Mrs. Harrison, als Regina ihre Hand langsam über das schöne Bett gleiten ließ.
»Ein englisches Stück«, ergänzte Mr. Harrison. »Mahagoni mit handgemaltem Muster unter mehreren Lackschichten.«
Die dunkelroten und dunkelgelben Rosen und die smaragdgrünen Blätter auf dem Bettgestell schienen lebendig zu sein; sie stachen nicht grell von dem dunklen Holz ab, waren aber so taufrisch und leuchtend, daß Regina sicher war, ihren Duft wahrnehmen zu können, wenn sie ihre Nase an die Blüten hielt.
»Vielleicht ist es für ein junges Mädchen ein bißchen alt«, sagte Mrs. Harrison, »ein bißchen verstaubt …«
»Ja, natürlich«, stimmte Mr. Harrison sofort zu, »wir können es in den Laden schaffen und verkaufen, und du suchst dir etwas aus, was dir gefällt, etwas Modernes. Das war bisher einfach ein Gästezimmer.«
»Nein«, sagte Regina hastig. »Es gefällt mir wirklich. Darf ich es behalten? Ich meine, obwohl es so teuer ist?«
»So teuer ist es gar nicht«, erwiderte Mr. Harrison, »und natürlich kannst du alles behalten, was du willst.«
»Oder alles loswerden, was du willst«, ergänzte Mrs. Harrison. »Uns ausgenommen, versteht sich«, sagte Mr. Harrison.
»Stimmt«, schmunzelte Mrs. Harrison, »ich befürchte, daß wir zum Haus gehören.«
Reginas Herz klopfte so heftig, daß sie kaum noch Luft bekam. Glück und Angst. Alles war so wunderbar – sicher würde es bald wieder damit zu Ende sein. Nichts, was so schön war, konnte lange andauern.
Eine Wand war mit Spiegeltüren versehen, und Mrs. Harrison öffnete eine der Schiebetüren und zeigte Regina, daß sich dahinter ein Wandschrank verbarg. Der größte Schrank der Welt. Vielleicht brauchte man einen so riesigen Schrank, wenn man ein Filmstar war, oder aber einer dieser Männer, von denen sie gelesen hatte, die manchmal gern Frauenkleider anzogen, denn dann brauchte man Garderobe für Jungen und Mädchen. Aber sie brauchte keinen so großen Kleiderschrank; die Sachen, die sie besaß, würden hier mindestens zehnmal hineinpassen.
Ziemlich verlegen betrachtete sie die beiden Pappkoffer, die sie aus dem Waisenhaus mitgebracht hatte. Sie enthielten alles, was sie auf dieser Welt besaß. Zum erstenmal in ihrem Leben begriff sie, daß sie arm war. Eigentlich merkwürdig, daß sie nie zuvor über ihre Armut nachgedacht hatte, denn schließlich war sie ja eine Waise, die nichts geerbt hatte. Das heißt, nichts außer einem vermurksten Bein und einer abgeknickten rechten Hand, an der zwei Finger fehlten.
Als hätte sie Reginas Gedanken gelesen, sagte Mrs. Harrison: »Machen wir einen Einkaufsbummel.«
Sie fuhren zur South Coast Plaza Mall. Dort kauften sie ihr alles mögliche: Kleidung, Bücher, was immer sie sich wünschte. Regina befürchtete, daß sie zuviel Geld ausgaben und sich nun ein Jahr lang von Bohnen ernähren müßten – sie mochte keine Bohnen –, aber sie überhörten geflissentlich alle Andeutungen über die Vorzüge der Sparsamkeit. Schließlich mußte sie der Verschwendungssucht Einhalt gebieten, indem sie behauptete, ihr schwaches Bein bereite ihr Probleme.
Anschließend aßen sie in einem italienischen Restaurant zu Abend. Sie hatte bis dahin zweimal auswärts gegessen, aber nur in einem Schnellimbiß, wo der Inhaber allen Kindern des Waisenhauses Hamburger und Pommes frites spendierte. Dies hier war ein richtiges Restaurant, und sie mußte soviel Neues verarbeiten, daß sie Mühe hatte, gleichzeitig zu essen, sich an der Unterhaltung zu beteiligen und alles zu genießen. Hier gab es keine harten Plastikstühle, und auch Messer und Gabeln waren nicht aus Plastik. Die Teller waren weder aus Pappe noch aus Styropor, und die Getränke wurden in Gläsern serviert, was wohl bedeutete, daß die Gäste in richtigen Restaurants nicht so ungeschickt waren wie die in einem Schnellimbiß, daß man ihnen auch zerbrechliche Dinge
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