Das versteckte Experiment (German Edition)
Chat zu beenden.
„Wie alt bist du?“ schrieb Sintja.
„Siebzehnmal hat die Erde seit meiner Geburt die Sonne umrundet.“
„Du bist in Deutschland geboren?“
„Nein.“
„Woher kommst du?“
„Von sehr weit her, aber ich bin euch sehr nahe.“
„Du willst mir nicht sagen, woher du kommst?“
„Ich darf es dir nicht sagen, Sintja.“
„O. k., ich wünsche dir eine gute Nacht.“
„Wenn ihr noch ein wenig den Himmel beobachtet, könnt ihr einige Meteore sehen. Heute passiert die Erde die Bahn des Kometen ‚Swift-Tuttle 1862 III‘. Der Komet hat zuletzt 1992 unzählige Bruchstücke verloren, als er in die Nähe der Sonne kam und aufgeheizt wurde. In dieses Geröll rast die Erde heute Nacht mit 106 000 km/h. Das Schauspiel solltet ihr nicht verpassen.“
„Danke für den Tipp“, schrieb Sintja noch und beendete dann die Verbindung.
„Hast du Christine verboten, mir zu sagen, wer sie ist und woher sie kommt?“
„Nein, natürlich nicht. Ich weiß es selbst nicht. Sie erzählt fast nichts von sich. Irgendetwas stimmt nicht mit ihr. Die Gespräche mit ihr über Astronomie, Kosmologie und Physik sind ausgesprochen interessant. Sobald wir aber Dialoge über persönliche Themen führen, wird alles sehr merkwürdig. Du hast es ja selbst erlebt. Setzen wir uns noch etwas nach drüben?“
„Es ist schon weit nach Mitternacht und ich muss bald gehen“, antwortete Sintja, nahm aber ihr Glas und setzte sich auf die Couch.
„Die Zeit ist so schnell vergangen. Immer wenn es besonders schön ist, vergeht sie besonders schnell“, seufzte er und ließ sich neben Sintja nieder. „Da fällt mir ein Zitat von Albert Einstein ein: ‚Wenn man zwei Stunden lang mit einem netten Mädchen zusammensitzt, meint man, es wäre eine Minute. Sitzt man jedoch eine Minute auf einem heißen Ofen, meint man, es wären zwei Stunden. Das ist Relativität.‘“
„Ich habe einmal gelesen, dass die Zeit aus der Sicht älterer Leute schneller vergeht als bei jungen Menschen. Offenbar spielen biochemische Prozesse dabei eine entscheidende Rolle, die bei älteren Menschen schneller ablaufen.“
„Wenn wir beide uns hier nach 60 Jahren wiedertreffen, dann vergeht der Abend noch schneller?“, scherzte Jan.
„Nein, dann hoffst du wahrscheinlich, dass ich endlich gehe!“ lachte Sintja und fuhr fort: „Jedenfalls muss ich jetzt wirklich nach Hause.“
„Ich bringe dich zum Bus.“
„Schön, wenn Christine recht hat, können wir auf dem Weg vielleicht einige Sternschnuppen sehen.“
Sintja stand auf. Jan blieb demonstrativ sitzen, als könne er sie dadurch dazu bewegen, doch noch etwas zu bleiben. Sintja verweilte vor der Tür. Sie hatte das Bild der Sonne entdeckt, das Christine Jan geschickt und das er mit einem Klipp an seiner Pinnwand befestigt hatte.
„Darf ich?“ fragte sie und nahm gleichzeitig das Bild von der Wand.
„Ist von Christine.“
„Wunderschön.“ Sintja drehte sich auf der Stelle, um etwas mehr Licht auf das Blatt fallen zu lassen, wandte sich wieder um, hielt es über ihren Kopf und anschließend mit ausgestreckten Armen weit von sich.
„Wunderschön“, wiederholte Jan und er meinte nicht das Bild. Er hörte, wie Sintja so etwas wie „keine Sonne“ flüsterte. Genau konnte er es nicht verstehen.
„Was?“ fragte er nach.
„Ach, nichts“, kam die Antwort, „kannst du es mir kopieren?“
„Kein Problem, mein Drucker hat eine Kopierfunktion.“
Jan stand auf und ging zu Sintja, die ihm immer noch den Rücken zugewandt hatte und die Sonne eingehend betrachtete. Er griff mit beiden Armen um ihre Hüften. Um das Gemälde in ihren ausgestreckten Händen zu erreichen, musste er sich ganz eng an sie schmiegen und den Kopf auf ihre Schulter legen. Er berührte ihre weichen Haare und ihre glühenden Wangen. Sie hielt noch für einige Sekunden das Blatt fest, obgleich sie ihre Augen geschlossen hatte.
Der Weg zur Haltestelle war viel zu kurz. Jan und Sintja gingen Hand in Hand über einen Feldweg, eine Abkürzung, die direkt zur Hauptstraße führte. Beide sahen ständig zum klaren Sternenhimmel hinauf, in der Hoffnung, die von Christine vorhergesagten Meteore zu erblicken. Manchmal stolperten sie über irgendwelche Steine oder Äste, aber immer gelang es ihnen, sich gegenseitig aufzufangen.
„Da, eine Sternschnuppe!“, rief Sintja. Tatsächlich zeichnete ein Meteor eine wunderschöne, lange Bahn am Himmel, die hinter einem naheliegenden Waldstück endete.
„Hast du dir
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