Das vertauschte Gesicht
betrunken.
»Wer issas?«, ertönte eine Frauenstimme aus der Wohnung. »Issas Pärra?«, nuschelte die Stimme. »Isses der Arzt?« »Wer bissu?«, fragte der Mann aggressiv. »Waswillssu?« »Ich suche Patrik«, sagte Winter.
»Wassum Teufel... harter gemacht?« Der Mann warf einen Blick auf Winters Ausweis, den er hochhielt.
»Er hat versucht, Kontakt zu uns aufzunehmen«, sagte Winter.
»Er is krank«, sagte der Mann. »Wie bitte?«
»Er sagt nichts«, sagte der Mann.
»Ist Patrik zu Hause?« Winter hatte die Stimme erhoben. Jetzt sah er die Frau im Hintergrund. Als sie näher schwankte, sah er die Angst in ihren Augen, vie lleicht auch etwas anderes.
»Er sagt nichts«, nuschelte der Mann wieder, und Winter fasste einen Entschluss, überschritt die Schwelle, stieß den Mann gegen die Wand und betrat die Wohnung.
41
Patriks Vater sackte hinter Winter zusammen, und die Frau war in eine Tür links gefallen. Winter ging rasch durch die längliche schmale Wohnung. Er sah den Jungen nicht, kam in den Flur zurück und sah auf den Mann hinunter.
»Wo ist Patrik?«, fragte Winter. »Wo ist der Junge?«
»Eh... draußen.« Dem Mann hing Speichel aus einem Mundwinkel. Der Rausch schien zugenommen zu haben, er war auf dem Weg in die Bewusstlosigkeit. »Draußen.« Er fuchtelte mit der Hand Richtung Tür.
»Was ist mit ihm? Ist er verletzt?« Winter packte den Mann am Oberarm, fühlte fast nur Knochen unter dem derben Hemd. »Was hast du verdammt noch mal mit ihm gemacht?« Winter drückte härter, merkte, dass er die Kontrolle über sich verlor. Er ließ los und ging auf ein Knie runter und versuchte, Augenkontakt mit dem Betrunkenen aufzunehmen, aber das war nicht mehr möglich.
Die Frau war herangekommen, stützte sich gegen die Wand, starrte den Eindringling an.
Winter erhob sich.
»Wann ist Patrik weggegangen?«
Sie schüttelte den Kopf, weigerte sich, so einem unerzogenen Typ zu antworten, der in ihr trautes Heim eingedrungen war.
»Ich komme wieder«, sagte Winter und ging die Treppen hinunter, hinaus auf die Straße, während er die Nummer wählte, die er in dem dünnen Adressbuch gefunden hatte.
»Hanne? Hallo. Hier ist Erik Winter. Hast du Patrik gesehen? Ja... ja, in den letzten Stunden oder so.« »Nein. Ich kann Maria fragen. Sie kommt gerade nach Hause.« »Ich warte.«
Er hörte die beiden im Hintergrund reden. Hanne Östergaard kam ans Telefon zurück.
»Nein«, sagte sie. »Sie war mit jemand anders unterwegs. Aber sie wollen sich morgen Nachmittag treffen.«
»Kann ich mit ihr sprechen?« Winter wartete, während er den Hörer in die andere Hand wechselte.
»Ja, hallo?«
»Hallo, Maria. Hier ist Erik Winter von der Kriminalpolizei.«
Aber sie wusste auch nicht, was Patrik ihm hatte sagen wollen. Sie wusste nicht, wo er im Augenblick war. Er könnte im Java oder in einem der anderen Cafes in der Vasagatan sein. Oder bei Jimmo. Die Nummer von Jimmo könnte sie ihm geben. Ja, sie würde ihm sagen, dass er sich bei Winter melden sollte, sobald sie etwas von ihm hörte oder ihn traf. Und Ihnen auch ein gutes neues Jahr.
Winter drückte auf Aus und wählte die Nummer von Jimmo, aber bei dem Kumpel meldete sich niemand.
Er fuhr nach Hause, parkte das Auto in der Garage und ging zum Java. Alle Stühle waren besetzt, die Luft war dick vom Zigarettenrauch. Es roch nach starkem Kaffee und Kakao, nach feuchter Kleidung, vielleicht auch nach Parfüm. Das Durchschnittsalter war höchstens achtzehn. Neben allen Tischen lagen Hand- und Schultertaschen auf einem Haufen. Jungen tragen heutzutage Taschen, dachte Winter. Das war praktisch, aber nichts für ihn, höchstens für Halders.
Er ging zwischen den Tischen hin und her und fühlte sich wie ein Fremder. Kein Patrik.
Ähnlich war es in einigen anderen Lokalen entlang der Straße. Und kein Patrik in Sicht.
Er wollte ja wieder anrufen, aber Winter machte sich Sorgen.
Jetzt ging es in erster Linie nicht um die Ermittlung. Er wählte Patriks Nummer zu Hause, aber dort ging niemand ran. Der Junge wollte wieder anrufen.
Der Umzug wogte durchs Zentrum. Die Göttin des Lichts wurde an der Spitze auf einem Karren transportiert. Der sieht aus wie ein Katafalk, dachte Winter an seinem Wohnzimmerfenster. Habakuks Tochter. Der Umzug ringelte sich wie ein Leuchtwurm durch den frühen Abend, weiter ostwärts über die Kreuzung. Das Publikum war ein schwarzes Meer, füllte die Straßen, verstopfte das Viertel.
Nicht alle haben im Empire State Building
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