Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das verwunschene Haus

Das verwunschene Haus

Titel: Das verwunschene Haus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pierre Bellemare
Vom Netzwerk:
schleppendem Schritt vorwärts. Suleima hofft inbrünstig, daß er eine weniger belebte Straße ansteuert. Und abermals dankt sie Allah: Der Bettler ist in eine verlassene Gasse eingebogen. Jetzt gibt es keinen Moment mehr zu verlieren. »Achmed!« ruft sie.
    Der Mann dreht sich um. Er hat mit Sicherheit begriffen, doch er bleibt reglos stehen und starrt sie an. Hat der Schreck ihn gelähmt, oder verbietet ihm sein männlicher Stolz, vor einer Frau zu flüchten?
    »Bist du es, Suleima?«
    »Ja, ich bin es.«
    »Was willst du?«
    »Dich töten...«
    Und im selben Augenblick hat die junge Frau den Dolch ihres Bruders hervorgeholt.
    »Aber ich kann nicht gegen dich kämpfen!« stammelt Achmed.
    »Wer spricht davon, daß du gegen mich kämpfen sollst? Hast du etwa gegen meinen Bruder gekämpft?« gibt Suleima mit verächtlichem Lachen zurück.
    Lahouine stürzt davon, als Suleima einen Revolver aus ihrem Gewand zieht. Er rennt, so schnell er kann, doch es ist zu spät. In der nächsten Sekunde ertönt ein Schuß, und er fällt zu Boden.
    Der Schuß ist weithin hörbar gewesen. Mehrere Leute stürzen herbei und werden Zeuge eines schrecklichen Schauspiels. Suleima Kabir hat sich über ihr Opfer gebeugt und ihm mit dem Dolch ihres Bruders die Brust geöffnet. Sie vollzieht die Rache der Beduinen: Sie schneidet ihm das Herz heraus...
    Wenn Suleima sich damit begnügt hätte, ihn zu erschießen, wäre sie womöglich niemals gefaßt worden. Sie hätte flüchten können. Doch sie erfüllt ihre Aufgabe bis zum Schluß.
    Sie wird überwältigt und gefesselt. Jetzt leistet sie keinen Widerstand mehr. Das herausgeschnittene Herz von Achmed Lahouine liegt auf den Pflastersteinen neben dem Rest seines Körpers. Suleima hat ihre Rache vollzogen, sie hat Genugtuung gefunden.
    Wie soll man einen derartigen Fall nach den Gesetzen der westlichen Welt beurteilen? Trotz ihrer schrecklichen Tat ist Suleima Kabir keine wirkliche Verbrecherin. Sie hat aus geschwisterlicher Liebe gehandelt, in uneigennütziger Weise, und sie hat dabei ohne zu zögern ihr eigenes Glück geopfert. Hätte sie nur an sich selbst gedacht und sich die Dinge leicht gemacht, so wäre sie Jussef Mourads Frau geworden, um fortan in Frieden zu leben.
    Solcherart waren im großen und ganzen die Worte, die Suleimas Anwalt für sie fand, als ihr im Januar 1957 in Hama der Prozeß gemacht wurde. Die Richter konnten sich dieser Sichtweise offenbar anschließen, denn die junge Frau wurde lediglich zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt. Nach drei Jahren wurde sie bereits entlassen, und natürlich heiratete sie dann Jussef Mourad, der auf sie gewartet hatte.
    Doch das erste, was sie taten, bestand darin, während einer ebenso beklemmenden wie erschütternden Zeremonie den Leichnam von Hachem Kabir aus seinem Grab zu nehmen und in liegender Haltung endgültig zu bestatten. Der Wille von Suleimas Bruder war erfüllt worden. Er konnte in Frieden ruhen.
     

Die kleine Detektivin
    Die zehnjährige Elizabeth Logan besitzt alle typischen Attribute kleiner englischer Mädchen, wie man sie so oft auf alten Stichen sieht und von denen in so vielen Versen die Rede ist: Sie hat blondes, lockiges Haar, eine kleine Stupsnase und blaue Augen, in denen sich zugleich Ernst und Schalkhaftigkeit spiegeln.
    Allerdings gibt es etwas, das Elizabeth Logan von ihren Altersgenossinnen vollkommen unterscheidet: Sie liest leidenschaftlich gern Kriminalromane, was kleinen Mädchen zur Zeit des Jahres 1928 streng verboten ist.
    Die kleine Elizabeth gibt sich ihrer Lieblingsbeschäftigung immer dann hin, wenn ihre Eltern sie alleine lassen, was häufig vorkommt. Ihr Vater bekleidet einen wichtigen Posten im Auswärtigen Amt, so daß ihre Eltern eine Vielzahl gesellschaftlicher Verpflichtungen haben.
    An diesem 16. Mai 1928 ist Elizabeth vollkommen allein in dem Haus im Londoner Stadtteil Chelsea. Ihre Gouvernante hat an diesem Tag Ausgang. Nachdem die Kleine rasch das Abendessen hinuntergeschlungen hat, das für sie vorbereitet worden war, ist sie in die Bibliothek ihres Vaters gegangen und hat sich ein Buch gegriffen, das sie schon seit langem lesen will: Der Mord an Roger Ackroyd von Agatha Christie.
    Es ist jetzt beinahe Mitternacht. Die kleine Elizabeth befindet sich bereits auf dem Höhepunkt der Spannung und wendet fieberhaft eine Seite nach der anderen im Schein ihrer Nachttischlampe. Von Zeit zu Zeit hält sie in ihrer Lektüre inne und versucht, den Namen des Mörders selbst zu erraten, was ihr

Weitere Kostenlose Bücher