Das verwunschene Haus
erscheint in den Zeitungen ein Bild von Elizabeth mit dem Titel: »Das kleine Mädchen, das den Mörder gesehen hat«.
18. Oktober 1928. Elizabeth Logan steht in der Londoner Untergrundbahn. Fünf Monate sind seit dem Mord vergangen, dessen Zeuge sie gewesen war. Nicht der geringste Hinweis ist inzwischen aufgetaucht, und der Mörder läuft nach wie vor frei herum. Elizabeth hat immer wieder an das große Abenteuer denken müssen, das sie damals erleben durfte: Sie war echten Polizisten begegnet, und sie war sogar zu Gast bei Scotland Yard.
Ihre Freude darüber wird allerdings durch die Tatsache getrübt, daß ihre Eltern sie keinen Abend mehr alleine lassen, da diese im nachhinein von Gewissensbissen geplagt worden sind. So kann sie nur noch unter großen Schwierigkeiten heimlich ihre Detektivgeschichten lesen...
Ein wenig zerstreut läßt die Kleine die einzelnen Stationen an sich vorüberziehen. Bei der nächsten Station muß sie aussteigen, um sich zu ihrem Klavierlehrer zu begeben, bei dem sie einmal wöchentlich Stunden nimmt.
Plötzlich klopft ihr das Herz bis zum Hals. Der Mann dort drüben auf der Bank, der ihr das Profil zukehrt, ist der Gesuchte! Sie ist sich ihrer Sache vollkommen sicher. Als ob es gestern gewesen wäre, sieht sie innerlich erneut den Mord unter der Straßenlaterne vor sich. Der Mann trägt jetzt einen anderen Anzug und hat sich den Lippenbart abrasiert, doch er hat dieselbe Mütze auf. Er ist lediglich etwas älter, als sie den Polizisten gegenüber angegeben hatte, denn er dürfte schon auf die vierzig zugehen.
Elizabeth zuckt abermals zusammen. Das Zuschlagen der Türen kam ganz überraschend. Dies war die Station, an der sie hätte aussteigen müssen. Unbewußt hatte sie wohl bereits eine Entscheidung getroffen. Mit ihrer Beschreibung des Mannes konnten die Polizisten nicht allzuviel anfangen. Sie würden genauere Angaben benötigen wie zum Beispiel seine Adresse. Deshalb wird sie ihm folgen und herausfinden, wo er wohnt.
Nach vier weiteren Stationen steigt der Mann aus. Das kleine Mädchen tut es ihm gleich und trippelt hinter ihm her, während er sich mit großen Schritten vorwärtsbewegt. Diese Station der Untergrundbahn führt zu mehreren Anschlußlinien. Welche von ihnen wird er nehmen? Sie darf ihn auf keinen Fall aus den Augen verlieren!
In dem Gang sind nur sehr wenig Leute. Womöglich liegt es am abgehackten Geräusch, das von Elizabeths Schuhen verursacht wird, daß der Mann sich auf einmal umblickt und ihrer gewahr wird. Das kleine Mädchen merkt, wie es auf der Stelle erstarrt. Nichtsdestotrotz wendet der Mann den Kopf und geht weiter.
Sie fahren jetzt mit einer anderen Linie der Untergrundbahn, und das kleine Mädchen wird allmählich nervös, denn in diese Arbeiterviertel am Stadtrand von London kommt sie sonst nie. Doch sie ist fest entschlossen, den Weg bis zu Ende zu gehen. Sie hat sich vier Bankreihen hinter den Mann gesetzt und kann ihn auf die Weise genau im Auge behalten.
Der Zug hält langsam an. Der Mann steht auf, öffnet die Tür und steigt aus. Elizabeth folgt ihm. Sie zwingt sich, ihre Angst zu überwinden. Es ist die Haltestelle »East India Docks«, ausgerechnet der finsterste Teil des Londoner Hafens. Tapfer hängt sich das kleine Mädchen an die Fersen des Mörders. Innerlich sagt sie sich: »Es war schließlich nicht zu erwarten, daß er im Buckingham Palace wohnt!«
Der Mann biegt in eine verlassene Straße zwischen zwei Lagerhäusern ein. Elizabeth zögert erstmals. Die Situation scheint gefährlich zu werden. Suchend hält sie nach einem Polizisten Ausschau. Ja, dort hinten ist tatsächlich ein Bobby, doch er ist zu weit entfernt. Bis sie ihn erreichen könnte, hätte sie den Mörder aus den Augen verloren, und er würde ihr entwischen. Also beißt sie die Zähne zusammen und nimmt mit gesenktem Kopf seine Verfolgung wieder auf.
Der Mann ist soeben nach rechts eingebogen. Das kleine Mädchen beginnt zu rennen, um ihn einzuholen. Sie biegt jetzt ebenfalls rechts, doch was soll das bedeuten? fragt sie sich unvermittelt. Der Mann ist verschwunden!
Sie rennt noch schneller und bleibt dann wie angewurzelt stehen. Es ist wie in einem Alptraum: Etwa hundert Meter vor ihr türmt sich eine hohe Backsteinmauer auf. Sie befindet sich in einer Sackgasse! Und hinter ihr vernimmt sie einen langsamen, ruhigen Schritt. Der Mann muß sich in einer Ecke versteckt haben und kommt jetzt auf sie zu.
Elizabeth rennt blindlings drauflos. Sie weiß, daß
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