Das verwunschene Haus
bevorzugter Sport ist. Außerdem hat sie sich vorgenommen, Polizistin zu werden, wenn sie einmal groß ist. Ja, eine weibliche Polizistin! Dann wird sie die gefährlichsten Verbrecher jagen. Sie wird der Schrecken aller Mörder sein! Plötzlich reißt sie der Schrei einer Frau aus ihren Träumen. »Zu Hilfe! Ein Mörder!«
Elizabeth springt aus dem Bett, läuft zum Fenster und zieht die Vorhänge auf...
Unten, auf der verlassenen Straße, überfällt ein Mann eine alte Frau. Elizabeth kann die Szene genau erkennen. Der Mann ist mit einem Messer bewaffnet. Doch das kleine Mädchen schließt nicht etwa vor Schreck die Augen, sondern nimmt jedes Detail in sich auf.
Die alte Dame ist zu Boden gefallen. Der Mann blickt nach rechts und links, packt die Handtasche seines Opfers, reißt ihm die Halskette ab und flüchtet im Laufschritt. Das Ganze hat nicht einmal dreißig Sekunden gedauert.
Elizabeth rast die Treppe hinunter und stürzt zum Telefon im Salon. Mit einer Stimme, die kein bißchen zittert, sagt sie zu dem Vermittlungsfräulein: »Verbinden Sie mich sofort mit der Polizei! Es ist dringend!«
Und als sich gleich darauf eine männliche Stimme meldet: »Kommen Sie so schnell wie möglich in die Harvey Street 16. Es handelt sich um einen Mord!«
Kurz nach Mitternacht klingeln die Beamten an der Harvey Street 16. Inspektor March, ein großer Bursche mit rotem Schnurrbart, beugt sich überrascht zu der Gestalt im rosafarbenen Bademantel herab, die soeben die Tür geöffnet hat. »Was machst du denn hier, kleines Fräulein? Geh schnell wieder schlafen. Wo sind deine Eltern?«
Doch zu seiner Verblüffung erklärt das kleine Etwas in selbstbewußtem Ton: »Meine Eltern sind ausgegangen. Ich selbst habe Sie angerufen.«
Mit großen Augen folgt der Inspektor dem Mädchen in den Salon. Elizabeth bietet ihm einen Sessel an und nimmt ihm gegenüber Platz.
»Ich habe alles von meinem Fenster aus beobachtet. Ist die alte Dame tot?«
Inspektor March ist derart verwirrt, eine solche Unterhaltung mit einem Kind führen zu müssen, daß er nach Worten sucht. »Ich... nun... nein, sie ist nur verletzt. Und du hast tatsächlich etwas so Schreckliches mitansehen müssen?«
Elizabeth Logan blickt den Inspektor aus ihren blauen Augen an, die in diesem Moment sehr ernst wirken.
»Das überrascht mich. Inspektor! Der Mann hat ihr das Messer ins Herz gestoßen, und die Klinge war bestimmt an die zwanzig Zentimeter lang.«
Der wackere Beamte fragt sich mittlerweile, ob er das Ganze vielleicht nur träumt.
»Sag mal, Kleine, wie alt bist du eigentlich?«
»Ich bin zehn. Warum?«
March zündet sich eine Zigarette an. was er sonst während der Dienstzeit niemals zu tun pflegt.
»Du hast recht. Das Opfer war auf der Stelle tot. Ich sehe, daß du trotz deines Alters schon eine sehr gute Beobachterin bist. Ich bin bereit, deine Zeugenaussage entgegenzunehmen...«
Elizabeth richtet sich in ihrem Sessel auf und erklärt mit fester Stimme: »Der Mann war zwischen dreißig und fünfunddreißig Jahre alt, Größe ungefähr ein Meter fünfundsiebzig, von eher südländischem Typ, mit dunklem Haar und schmalem Lippenbart; er trug einen abgetragenen hellgrauen Anzug, ein weißes Hemd, keine Krawatte und eine karierte Mütze.«
Als sie den fassungslosen Blick des Beamten bemerkt, fügt Elizabeth hinzu, wie um sich zu entschuldigen: »Es war nicht mein Verdienst. Die Szene hat sich fast direkt unter der Straßenlaterne abgespielt...«
Am darauffolgenden 17. Mai 1928 beginnt Francis March seine Ermittlungen. Eigentlich ist dieser Raubmord, der sich des Nachts in einer einsamen Straße von London abgespielt hat, ein ganz gewöhnlicher Fall. Höchst ungewöhnlich ist jedoch die Figur des Belastungszeugen.
Am Nachmittag des 17. Mai erscheint Elizabeth im Büro des Inspektors, um ihre Aussage offiziell zu bestätigen. Diesmal wird sie von ihren Eltern begleitet. Mr. und Mrs. Logan wirken sehr viel nervöser als ihre Tochter, die mit gelassener Stimme all das wiederholt, was sie in der Nacht beobachtet hatte. Zum Schluß meint Elizabeth: »Ich weiß, daß diese Beschreibung auf viele Männer zutreffen kann, aber wenn man mir den Mann gegenüberstellt, werde ich ihn bestimmt wiedererkennen.«
Am Ausgang von Scotland Yard liegen schon mehrere Journalisten auf der Lauer. Mr. Logan stößt sie beiseite und stürzt mit seiner Tochter zum wartenden Wagen, aber den Pressefotografen ist es dennoch gelungen, ein paar Fotos zu schießen. Und am Abend
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