Das verwunschene Haus
aufhält.
Hachem bleibt in der Mitte der Stelle stehen, wo sich vor etwas weniger als zweitausend Jahren der Haupttempel der Stadt befunden hatte. Er sieht sich um, doch außer ihm ist niemand da. Er ist demnach als erster angekommen. Reglos verharrt er...
Mit seiner hohen Gestalt und dem weißen Burnus kann man ihn schon von weitem erkennen. Seine fein gezeichneten Gesichtszüge haben bei aller Jugendlichkeit auch etwas Ernsthaftes. Trotz seiner achtzehn Jahre ist er bereits das Oberhaupt der Familie, da seine Eltern im Jahr zuvor einer Epidemie zum Opfer gefallen waren. Seitdem trägt er die Verantwortung für seine Schwester Suleima, wie es bei den Beduinenstämmen Brauch ist.
Hachem späht zwischen den verlassenen Ruinen hindurch... Er ist Suleimas wegen hier. Seine Schwester, die gerade erst siebzehn Jahre zählt, ist eine Schönheit, wie man sie selbst unter den Mädchen der Wüste nur selten sieht. Sie ist hochgewachsen, hat riesige schwarze Augen und langes braunes Haar wie aus Tausendundeiner Nacht. So ist es natürlich nicht verwunderlich, daß Hachem von Bewerbern um Suleimas Hand geradezu bestürmt worden ist. Doch er hatte sie alle zurückgewiesen, denn er hielt es für seine Pflicht, auf eine wirklich gute Partie zu warten.
Als Achmed Lahouine dann daherkam und um Suleima anhielt, war Hachem erstmals bereit, über den Antrag ernsthaft nachzudenken. Immerhin war Achmed Lahouine der Sohn eines reichen Beduinen. Er hatte sich leidenschaftlich in Suleima verliebt und dreißig Kamele für sie geboten.
Dies war ein äußerst großzügiger Vorschlag. Normalerweise hätte Hachem sofort annehmen müssen. Als Familienoberhaupt besitzt er das Recht dazu. Da er jedoch seine Schwester stets sehr geliebt hat, wollte er zuvor ihre Meinung hören.
In den Ruinen von Palmyra denkt Hachem Kabir an das Gespräch, das er vor zwei Tagen mit Suleima geführt hat. »Suleima«, hatte er zu ihr gesagt, »Achmed Lahouine will dich zur Frau. Er bietet dreißig Kamele.«
Daraufhin war das junge Mädchen in Tränen ausgebrochen. Hachem hatte sie in den Arm genommen.
»Wenn du nicht willst, lehne ich ab. Liebst du einen anderen?«
Suleima hatte genickt.
»Wen?«
»Jussef Mourad.«
»Den Meharistensergeant?«
»Ja.«
»Hat er schon mit dir gesprochen?«
»Ja, am Brunnen.«
»Und du willst ihn heiraten?«
»Ja.«
Hachem hatte überlegt. Jussef Mourad war ein ehrenwerter junger Mann, und darüber hinaus genossen die Meharisten als Angehörige einer Elitetruppe in der Wüste hohes Ansehen. Also umarmte er seine Schwester und meinte: »Gut, sag Jussef, er soll seinen Antrag vorbringen. Ich werde ihm mein Einverständnis geben.«
Doch nun wartete der unangenehmste Teil der Angelegenheit auf ihn, nämlich Achmed die Sache zu erklären. Zu behaupten, daß ihre Unterhaltung einen schlechten Verlauf genommen hatte, war noch stark untertrieben. Lahouine war fuchsteufelswild geworden. Mit einer Hand hatte er seinen Krummdolch umklammert und dazu geschrieen: »So ist das also!«
Hachem, der ebenfalls von leicht erregbarem Temperament war, hatte versucht, ihn rasch loszuwerden, doch Achmed war nicht einfach fortgegangen. In drohender Haltung hatte er ihm ins Gesicht geschleudert: »Du hast mein Angebot zurückgewiesen und meinen Namen beleidigt. Bist du bereit, mich heute abend in den Ruinen von Palmyra zu treffen?« Und Hachem hatte ruhig geantwortet: »Ich werde dort sein.« Auch Hachem Kabir hält jetzt mit einer Hand seinen Krummdolch umklammert. Er hat Suleima nichts erzählt, um sie nicht zu beunruhigen. Für gewöhnlich endet diese Art von Duell nicht mit dem Tod eines der Beteiligten. Es kommt in erster Linie darauf an, der Ehre Genüge zu tun... Soeben ist eine weiße Gestalt zwischen den Säulen aufgetaucht. Hachem Kabir sieht, wie Achmed Lahouine in einigen Meter Entfernung stehenbleibt. Rasch zieht Hachem den Dolch aus dem Gürtel. Sein Gegner greift in die Falten seines Burnus’, und Hachem stößt einen Schrei aus.
Er muß sich getäuscht haben! Ein derartiger Verrat ist unmöglich! Und dennoch zieht Achmed Lahouine tatsächlich einen Revolver aus dem Gürtel statt eines Dolches. Im nächsten Moment hallt eine Detonation durch die trockene Wüstenluft...
Über Palmyra ist der Tag wieder angebrochen. In Begleitung von Jussef Mourad hat sich Suleima Kabir auf die Suche nach ihrem Bruder gemacht. Sie entdeckt den Leichnam als erste und wirft sich weinend über ihn, während Jussef reglos daneben steht. Als seine
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