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Das verwunschene Haus

Das verwunschene Haus

Titel: Das verwunschene Haus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pierre Bellemare
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dessen konzentriert sie ihre Erinnerung ganz auf das schreckliche Bild ihres toten Bruders, der in sitzender Haltung unter den Steinen der Wüste begraben ist.
     
    Es ist der 2. September 1956. In den Straßen der großen syrischen Stadt Hama drängen sich wie gewöhnlich viele Menschen, um so mehr, als heute Markttag ist.
    Niemand achtet unter all den anderen auf die verschleierte junge Frau, obwohl deren Augen — das einzige, was von ihrer Person wirklich sichtbar ist — die Passanten mit seltsamer Intensität mustern.
    Seit fast einem Jahr zieht Suleima Kabir auf der Suche nach Achmed Lahouine durch Syrien. Sie war zunächst in die Hauptstadt Damaskus gereist, doch dort hatte sie ihn nicht gefunden. Dann hatte sie sich in den Norden aufgemacht, und vor drei Wochen ist sie in Hama angekommen.
    Das Leben, das sie jetzt führt, ist mehr als mühselig; es ist ein gefährliches und zugleich elendes Umherirren. Für eine Frau ist es besonders riskant, so durch die Straßen zu spazieren, und eine vorübergehende Wohnmöglichkeit zu finden bringt enorme Schwierigkeiten mit sich.
    Dennoch gibt sie nicht auf. Ihre Entschlossenheit und ihr Haß treiben sie immer weiter und geben ihr die nötige Kraft. Tief in ihrem Innern weiß sie, daß Achmed Lahouine ihr nicht entkommen kann und daß sie ihn eines Tages aufspüren wird, selbst, wenn er Syrien schon verlassen haben wird, selbst, wenn sie bis ans Ende der Welt gehen muß.
    Die Tatsache, eine Frau zu sein, ist in gewisser Weise bei der Suche sogar hilfreich. Der Schleier, den die strengen islamischen Gesetze sie zu tragen verpflichten, ermöglicht ihr, zu sehen, ohne gesehen zu werden, so daß sie die Menschen um sich herum in aller Ruhe betrachten kann. Achmed Lahouine könnte nur einen Meter von ihr entfernt sein und würde sie dennoch nicht erkennen.
    Suleima zuckt heftig zusammen. Dieser Bettler, der dort drüben am Boden sitzt, dieser verwahrloste, schmutzige junge Mann, ist er das etwa?
    Suleima nähert sich und mustert den Burschen eingehend. Natürlich hat er mit dem reichen, arroganten Beduinen von einst, der sie ihrem Bruder für dreißig Kamele abkaufen wollte, nichts mehr gemeinsam, doch die Gesichtszüge sind dieselben, und daß er zum Bettler geworden ist, erscheint logisch. Achmed war überstürzt geflohen, und das bißchen Geld, das er mitnehmen konnte, ist natürlich längst aufgebraucht. Folglich mußte er irgendwann im Elend landen. Suleima betrachtet den Bettler nach wie vor mit scharfem Auge. Alles stimmt überein, und die Ähnlichkeit ist frappierend, aber kann sie wirklich sicher sein? Sie darf sich auf keinen Fall irren; dazu hat sie kein Recht.
    Der Bettler hat bemerkt, daß die Frau ihn anstarrt. Da er glaubt, ihr Mitgefühl erregt zu haben, streckt er die Hand aus.
    »Im Namen Allahs, eine milde Gabe, edle Dame!«
    Suleima unterdrückt ein Zittern. Diese Stimme! Es ist eindeutig die seine. Ihr Umherirren hat ein Ende. Jetzt kommt der schwerste Teil ihrer Aufgabe, obwohl sie keine Angst davor hat.
    »Eine milde Gabe, im Namen Allahs...«
    Suleima flüchtet, ohne zu antworten, bleibt aber unter einem Torbogen in etwa zwanzig Meter Entfernung stehen. Angesichts all dieser Menschen könnte sie ihren Racheplan niemals ausführen. Sie muß zumindest ein paar Minuten mit ihm allein sein. Es heißt also abzuwarten...
    Der ganze Tag vergeht darüber, und als die Dunkelheit hereinbricht, beginnt Suleima, nervös zu werden. Eine moslemische Frau kann nachts nicht auf der Straße bleiben. Sie wird ihren Beobachtungsposten aufgeben müssen. Soll sie am anderen Tag wiederkommen? Es ist zwar durchaus wahrscheinlich, daß Achmed Lahouine jeden Tag an derselben Stelle bettelt, aber es ist nur eine Möglichkeit. Und wenn er am anderen Tag nicht mehr da ist? Wenn das Verhalten der geheimnisvollen Frau sein Mißtrauen erregt hat? Vielleicht hat er inzwischen begriffen...
    Ist es da nicht besser, sofort zu handeln, trotz der Passanten, die in der Dämmerung noch unterwegs sind?
    Nervös umklammert Suleima den Krummdolch ihres Bruders, den sie unter den Falten ihres schwarzen Gewandes trägt. Es ist weniger der Gedanke, auf offener Straße verhaftet zu werden, was sie zurückhält. Sie fürchtet vielmehr, an der Ausführung ihrer Rache von einem der Vorübergehenden gehindert zu werden.
    Die junge Frau stößt einen erstickten Schrei aus. Allah ist zweifellos mit ihr, denn Achmed ist soeben aufgestanden. Langsam hat er sich erhoben und bewegt sich jetzt mit

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