Das verwunschene Haus
sehen, Sie und Ihre Tochter.«
Völlig aufgelöst und einer Ohnmacht nahe zieht Emilie ihre noch halb schlafende Tochter Juliette an. Dann streift sie selbst rasch Rock und Bluse über und läßt sich mit dem Kind in das Taxi fallen, das sofort losfährt.
Erst etwa fünf Minuten später, nachdem der Wagen schon einige Kilometer zurückgelegt hat, beginnt Emilie nachzudenken.
Moment mal, überlegt sie, das ist doch im Grunde unmöglich! Joseph ging es noch vor ein paar Stunden so viel besser. Er hatte kein Fieber mehr und war in so guter Verfassung, daß er jetzt nicht plötzlich im Sterben liegen kann! Und außerdem waren auch die Ärzte voller Zuversicht gewesen. Unvermittelt ist ihr in dem Taxi sehr unbehaglich zumute. Ihre Umgebung kommt ihr mit einem Mal bedrohlich vor. Vielleicht liegt es an der Dunkelheit. Oder es liegt es an diesem dichten, finsteren Wald mit den vielen Tannen. Und natürlich liegt es auch an dieser einsamen Straße, auf der ihnen bisher nur zwei Autos begegnet sind, ganz zu schweigen von dem Mann am Steuer, der nichts sagt und an den sie nicht das Wort zu richten wagt.
Emilie weiß nicht, was sie davon halten soll. Sie weiß nur, daß sie jetzt Angst hat. Sie ist mit ihrer Tochter mitten in der Nacht allein in einem dunklen Wald, und sie fühlt sich wie in einer Falle. Beschützend drückt sie das Kind an sich, das bleich und stumm neben ihr sitzt und das bestimmt genauso große Angst hat wie sie selbst.
Und so schrecklich es ist: Emilie ertappt sich dabei, wie sie insgeheim hofft, es sei wahr und ihr Mann liege tatsächlich im Sterben! Alles ist besser als das. was ihr und ihrer Tochter womöglich zustoßen wird und woran sie lieber nicht einmal denken mag...
Emilie sieht sich die Straßenschilder an. Es ist wirklich die Strecke, die nach Genf führt und die sie am Morgen selbst schon zurückgelegt hat. Doch das will nichts heißen. Sie wird erst dann beruhigt sein, wenn die schmiedeeisernen Gitter der Kliniktore vor ihr auftauchen.
Das Taxi erreicht jetzt den Stadtrand von Genf. Es fährt am Bahnhof von Cornavin vorbei, steuert durch die verlassenen Straßen, und endlich ist das Tor der Klinik in Sicht.
Mit einem Schlag ist Emilies Angst gewichen. Doch gleich darauf folgt der nächste Schock. Sie stürzt zur Nachtglocke, und eine verdrießlich wirkende Schwester erscheint.
»Ich bin Madame Martin.«
»Ich weiß. Sie waren ja heute morgen schon hier.«
»Ich möchte zu meinem Mann.«
»Sie wollen um drei Uhr morgens zu Ihrem Mann?«
»Aber er liegt doch im Sterben!«
»Davon kann keine Rede sein. Es geht ihm sehr gut. Als ich vor einer Viertelstunde meine Runde gemacht habe, lag er friedlich schlafend in seinem Bett.«
»Ja, hat die Klinik denn nicht das Taxi für mich bestellt?«
»Kein Mensch hier hat ein Taxi bestellt!«
Emilie dreht sich zu dem Fahrer um, der hinter ihr stehengeblieben ist. Er begreift das Ganze ebensowenig wie sie.
»Aber ich weiß genau, daß man mich angerufen hat! Ich war am Bahnhof gewesen. Kurz nach zwei Uhr kam ein Anruf. Man hat mir gesagt, es handle sich um die Klinik Beauséjour. Sie hätten einen Patienten, der im Sterben liege, und ich müsse dessen Frau und die kleine Tochter holen. Man hat mir den Namen Ihres Mannes genannt und das Dorf, in dem Sie wohnen. Da ich die Gegend kenne, und es gewissermaßen als meine Pflicht betrachtet habe, bin ich sofort losgefahren.«
Der Taxifahrer scheint die Wahrheit zu sagen, und Emilie begreift endlich: Dieser Telefonanruf war dazu bestimmt, sie aus dem Haus zu locken. Und Michel wird anschließend sicher zu seinen Eltern gegangen sein, um diese zu verständigen.
Ohne Geld macht sich Emilie zusammen mit Juliette zu Fuß auf den Heimweg. Völlig erschöpft passieren sie die Grenze. Auf der französischen Seite hat gerade ein kleines Bistro geöffnet. Am Ende ihrer Kräfte und ihrer Nerven geht sie mit ihrer Tochter hinein, wo die beiden von den Wirtsleuten mißtrauisch betrachtet werden. Schließlich ist es noch ganz früh am Morgen.
Emilie kann jedoch auf einmal nicht mehr an sich halten. Sie erzählt ihnen die ganze schreckliche Geschichte. Der Wirt ist ein wackerer Mann und schlägt vor, sie in seinem Wagen nach Hause zu bringen. Sie fahren los. und eine Viertelstunde später erscheint von weitem der Bauernhof.
Emilie hat sich nicht getäuscht: Überall brennt Licht, und die Fensterläden sind eingeschlagen. Der erste Akt des Dramas hat sein Ende gefunden, und der zweite beginnt, der leider sehr
Weitere Kostenlose Bücher