Das vierte Protokoll
zwei Uhr morgens, und sie waren zu fünft.
In manchen Gegenden Englands werden sie Skinheads oder Punks genannt, aber in Glasgow heißen sie Neds. Seinjonow überlegte, ob er auf die andere Straßenseite gehen sollte, aber es war schon zu spät. Einer der Neds rief ihn an, und alle quollen aus dem Wartehäuschen. Semjonow konnte ein bißchen Englisch, aber dieses breite, breiige Säuferschottisch war zuviel für ihn. Sie blockierten den Gehsteig, und er trat auf die Fahrbahn. Einer packte ihn am Arm und schrie auf ihn ein. Die Frage des Rowdys lautete:
»Wa hasn da innem Sack da?«
Semjonow verstand ihn nicht, deshalb schüttelte er den Kopf und wollte weitergehen. Schon waren sie über ihm, und er stürzte unter einem Hagel von Schlägen zu Boden. Als er im Rinnstein lag, begannen sie, ihn zu treten. Undeutlich fühlte er Finger, die an seinem Jutesack zerrten, und er preßte ihn mit beiden Händen an sich und rollte sich auf den Bauch, so daß ihn die Tritte an Hinterkopf und Nieren trafen.
Devonshire Terrace, eine Reihe solider vierstöckiger Mittelklassehäuser aus braunen und grauen Sandsteinquadern, liegt an dieser Kreuzung. Im obersten Stockwerk eines dieser Häuser lag Mrs. Sylvester, alt, verwitwet, allein und von Arthritis verkrümmt, schlaflos im Bett. Sie hörte das Geschrei, das von der Straße heraufdrang, und humpelte ans Fenster. Nach einem kurzen Blick schleppte sie sich wieder durchs Zimmer zum Telefon, wählte 999 und verlangte die Polizei. Sie gab der Vermittlung an, zu welcher Kreuzung der Streifenwagen fahren solle, legte jedoch auf, als sie nach ihrem Namen und der Adresse gefragt wurde. Anständige Bürger, und die Bürger von Devonshire Terrace sind sehr anständig, wollen mit dergleichen nichts zu tun haben.
Die Constables Alistair Craig und Hugh McBain saßen in ihrem Streifenwagen am Ende der Great Western, am Hillhead, als der Funkspruch durchkam. Es war so gut wie kein Verkehr, und sie erreichten die Bushaltestelle in neunzig Sekunden. Die Neds hörten die Sirene und sahen das Blaulicht, ließen ab von dem Jutesack und rannten davon, über den Rasenstreifen, der die Hughenden Road von der Great Western trennt, so daß der Wagen ihnen nicht folgen konnte. Bis Police Constable Craig aus dem Streifenwagen sprang, waren sie nur noch entschwindende Schatten, jede Verfolgung wäre sinnlos gewesen. Ohnehin mußten die Polizisten sich zuerst um das Opfer kümmern.
Craig beugte sich über den Mann. Er lag zusammengekrümmt wie ein Fötus und war bewußtlos.
»Ambulanz, Hughie«, rief er zu Police Constable McBain hinüber, und der Fahrer gab die Meldung durch. Nach sechs Minuten war der Krankenwagen von der Western Infirmary zur Stelle. Die beiden Beamten hatten vorschriftsgemäß in der Zwischenzeit den Verletzten nicht berührt, sondern nur eine Decke über ihn gebreitet.
Die Sanitäter hoben den schlaffen Körper behutsam auf eine Rollbahre und schoben sie ins Fahrzeug. Als sie die Decke um den Mann schlugen, hob Craig den Jutesack auf und legte ihn in den Krankenwagen.
»Du fährst mit ihm, ich komm' nach«, rief McBain, und Craig stieg gleichfalls in den Ambulanzwagen. Es dauerte keine fünf Minuten, bis sie alle bei der Notaufnahmestation ankamen. Die Sanitäter rollten den Verletzten rasch durch die Schwingtüren, den Korridor entlang, um zwei Ecken und in den rückwärtigen Teil der Unfallstation. Da es sich um eine Notaufnahme handelte, mußten sie nicht durch den allgemeinen Wartesaal, wo die übliche frühmorgendliche Ansammlung von Süffeln ihre Platzwunden und Quetschungen versorgen lassen wollten, die sie sich bei Zusammenstößen mit unnachgiebigen Objekten zugezogen hatten.
Craig wartete am Eingang auf McBain, der den Streifenwagen parkte.
»Du kümmerst dich um die Aufnahmeformulare, Hughie, und ich mach' mich auf die Socken und seh' zu, ob ich Name und Adresse erfahren kann.«
McBain seufzte. Immer diese endlosen Aufnahmeformulare. Craig hob den Jutesack vom Boden auf und folgte der Bahre den Korridor entlang zur Unfallstation. Diese Abteilung der Western Infirmary besteht aus einem Durchgang mit Schwingtüren an beiden Enden und zwölf durch Vorhänge abgeteilten Kabinen, sechs auf jeder Seite des Mittelgangs. Elf Kabinen werden zu Untersuchungen benutzt; die zwölfte ist das Schwesternzimmer, gleich neben dem rückwärtigen Eingang, durch den die Bahren hereingefahren werden. Die Türen am anderen Ende haben in den Füllungen Spiegelglas und führen ins
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