Das vierte Protokoll
dankte und legte auf. Er beschloß, seinem Chauffeur freizugeben, selber zu fahren und den GRU-General um neunzehn Uhr zu überraschen.
Preston lag wach in seinem Bett und dachte nach. Carmichael hatte ihm sämtliche Aussagen gebracht, die in der Western Infirmary und im Revier zu Protokoll genommen worden waren. Wie alle von der Polizei aufgenommenen Aussagen waren sie gestelzt und förmlich, nicht so, wie die Leute tatsächlich erzählen, was sie gesehen und gehört haben. Die Fakten waren selbstverständlich da, nicht jedoch die Eindrücke.
Eines konnte Preston nicht wissen, da Craig es nicht erwähnt und die Stationsschwester es nicht gesehen hatte: Ehe Semjonow durch den Gang zwischen den Untersuchungskabinen geflüchtet war, hatte er versucht, die runde Tabaksdose an sich zu reißen. Craig hatte nur gesagt, der Verletzte habe ihn beiseite gestoßen und sei weggerannt.
Auch die Liste der persönlichen Effekten, der »Artikel«, half Preston nicht viel weiter. Auf ihr war eine runde Tabaksdose »mit Inhalt« aufgeführt, der aus zwei Unzen Pfeifentabak bestehen konnte.
Preston ging im Geist die Möglichkeiten durch. Nummer eins: Semjonow war ein »Illegaler«, der in Großbritannien landete. Schlußfolgerung: Höchst unwahrscheinlich. Er stand auf der Besatzungsliste des Schiffs, und sein Fehlen müßte auffallen, wenn die Akademik Komarow wieder nach Leningrad auslaufen würde.
Also zu Nummer zwei: Er sollte mit dem Schiff nach Glasgow kommen und auch mit ihm am Donnerstag abend wieder zurückfahren. Was hatte er weit nach Mitternacht auf halber Höhe der Great Western Road zu tun gehabt? Eine »Lieferung« deponieren oder einen Treff einhalten? Gut. Oder vielleicht sogar etwas abholen und nach Leningrad schaffen. Noch besser. Weitere Möglichkeiten fielen ihm nicht ein.
Wenn Semjonow seine Sendung bereits abgeliefert hatte, warum hätte er dann seinen Jutesack schützen sollen, als hänge sein Leben davon ab? Der Sack wäre dann ja leer gewesen.
Dieselbe Logik galt für den Fall, daß er etwas abholen sollte, es aber noch nicht getan hatte. Und wenn er es bereits abgeholt hatte, wieso fand sich dann nichts Interessantes, wie zum Beispiel ein Bündel Papiere, unter seinen Habseligkeiten?
Wenn der Gegenstand, den er hatte abliefern oder holen sollen, am Körper verborgen werden konnte, wozu dann überhaupt der Sack? Wenn irgend etwas in seinen Anorak oder die Hose eingenäht oder in einem Schuhabsatz versteckt war, hätte er doch den Neds diesen Sack überlassen können, hinter dem sie her waren. Er hätte sich die Prügel ersparen und zu seinem Treff oder wieder zurück aufs Schiff gehen können (je nachdem, in welche Richtung er wollte) und nur ein paar blaue Flecken abbekommen.
Preston gab seinem Heimcomputer noch ein paar »Wenns« ein. Semjonow war als Kurier gekommen und wollte einen bereits in Britannien sitzenden sowjetischen Illegalen persönlich treffen. Um eine mündliche Botschaft zu überbringen? Unwahrscheinlich, es gab ein Dutzend einfachere Möglichkeiten, codierte Informationen durchzugeben. Um eine mündliche Meldung entgegenzunehmen? Gleiche Schlußfolgerung. Um mit einem ansässigen Illegalen den Platz zu tauschen, den Mann zu ersetzen? Nein, das Foto in seinem Seefahrtbuch zeigte eindeutig Semjonow. Wäre er als Ersatzmann für einen Illegalen gekommen, so hätte Moskau ihm ein Duplikat des Seefahrtbuchs mit dem entsprechenden Foto mitgegeben, damit der Mann, den er ablösen sollte, als Leichtmatrose Semjonow mit der Akademik Komarow hätte auslaufen können. Dieses Seefahrtbuch hätte er bei sich getragen. Oder in irgendeinem Futter eingenäht. In welchem Futter?
Zum Beispiel im Futter des Anoraks. Warum sich dann wegen des Sacks halbtot schlagen lassen? Im Juteboden des Sacks? Schon wahrscheinlicher.
Alles schien auf diesen verdammten Sack hinzuweisen. Kurz vor Mitternacht rief er Carmichael in dessen Wohnung an.
»Können Sie mich um acht abholen?« fragte er. »Ich möchte ins Revier von Partick und einen Blick auf die Artikel werfen. Können Sie mir Deckung geben?«
Beim Frühstück am Freitagmorgen sagte Jewgenij Karpow zu seiner Frau Ludmilla:
»Kannst du die Kinder heute nachmittag im Wolga hinaus zur Datscha fahren?«
»Natürlich. Kommst du dann direkt vom Büro aus nach?«
Er nickte zerstreut.
»Es wird spät werden. Ich muß noch jemanden vom GRU aufsuchen.«
Ludmilla Karpowa unterdrückte einen Seufzer. Sie wußte, daß ihr Mann sich in einer kleinen Wohnung im
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