Das vierte Protokoll
in einem Ort nahe Antwerpen an, genau gesagt, in dem Dorf Nijlen. Von seiner Wohnung aus buchte er telefonisch bei British Airways einen Flug nach Brüssel für den nächsten Tag.
Entlang der Themse, am südlichen Flußufer, wo einst die verfallenden Ladekais eines sterbenden Hafens lagen, war von Anfang bis Mitte der achtziger Jahre ein gewaltiges Sanierungsprogramm im Gange gewesen. Es hatte zwischen den Neubauten riesige Schutthalden hinterlassen, Mondlandschaften, wo üppiger Grasbewuchs sich mit Bruchziegeln und Staub mischte. Es hieß, eines Tages würden sich hier neue Wohnblocks, Ladenstraßen und vielgeschossige Parkhäuser ausbreiten, aber wann das sein würde, wußte kein Mensch.
Bei warmem Wetter kampierten die Wermutbrüder in diesem Niemandsland, und wenn ein Südlondoner Ganove ein heißes Beweisstück verschwinden lassen wollte, so mußte er es nur zu einem dieser Trümmergrundstücke bringen und zu Asche verbrennen.
Am späten Abend dieses Donnerstags, des 6. Januar, marschierte Jim Rawlings über ein Areal von mehreren Hektar, stolperte im Dunkeln, wenn ihm unsichtbare Brocken Mauerwerk im Weg lagen. Hätte jemand ihn beobachtet, was nicht der Fall war, so hätte er gesehen, daß er in der einen Hand einen Zehn-Liter-Kanister trug (der mit Benzin gefüllt war) und in der anderen ein elegantes handgearbeitetes Diplomatenköfferchen aus Kalbsleder.
Louis Zablonsky passierte am Mittwochvormittag den Flughafen Heathrow ohne Schwierigkeiten. Mit seinem schweren Überzieher und dem weichen Tweedhut, eine Reisetasche in der Hand und eine gewaltige Bruyere-Pfeife zwischen den Zähnen, bewegte er sich in dem Strom der Geschäftsleute, die täglich von London nach Brüssel reisen.
In der Maschine beugte sich eine der Stewardessen zu ihm und flüsterte: »Tut mir leid, Sir, Sie dürfen an Bord nicht rauchen.« Zablonsky entschuldigte sich überschwenglich und steckte die Pfeife in die Tasche. Ohne Bedauern. Er war Nichtraucher, und selbst wenn er die Pfeife angezündet hätte, hätte sie nicht besonders gut gezogen. Nicht, solange vier birnenförmige achtundfünfzigfacettige Diamanten unter dem festgedrückten Tabak im Pfeifenkopf steckten.
In Brüssel-National mietete er einen Wagen und fuhr auf der Autobahn nordwärts über Zaventem Richtung Mecheln, wo er nach rechts abbog und Lier und Nijlen im Nordosten ansteuerte.
Hauptsitz der Diamantenindustrie Belgiens ist Antwerpen, und dort wiederum ist es vor allem die Pelikaanstraat und Umgebung, wo die großen Firmen ihre Ausstellungsräume und Ateliers haben. Aber wie die meisten Industrien ist auch das Diamantengeschäft auf ein Heer kleiner Zulieferer angewiesen, auf freie Mitarbeiter und selbständige Ein-Mann-Betriebe, die auf Vertragsbasis Fassungen liefern und das Reinigen und Umschleifen besorgen.
Einige dieser Heimarbeiter leben auch in Antwerpen, zumeist Juden osteuropäischer Herkunft. Doch östlich von Antwerpen liegt die Gemeinde Kempen, eine Ansammlung schmucker
Dörfer, in denen gleichfalls Dutzende dieser kleinen Werkstätten für die Antwerpener Industrie tätig sind. Im Zentrum von Kempen liegt Nijlen, zu beiden Seiten der Hauptstraße und der Bahnlinie Lier - Herenthals.
Dort, in der Mittleren Molenstraat, lebte ein gewisser Raoul Levy, ein polnischer Jude, der sich nach dem Krieg in Belgien angesiedelt hatte und zufällig ein Vetter zweiten Grades von Louis Zablonsky aus London war. Der verwitwete Levy war Diamantenschleifer und wohnte an der Westseite der Molenstraat in einem kleinen schmucken Backsteinhäuschen, an dessen Rückseite seine Werkstatt lag. Dorthin fuhr Zablonsky. Kurz nach dem Mittagessen traf er bei seinem Verwandten ein.
Eine Stunde lang verhandelten sie, dann waren sie einig: Levy würde die Steine umschleifen und darauf achten, daß zwar so wenig wie möglich an Gewicht verlorenging, die Steine aber doch nicht mehr identifizierbar waren. Als Entgelt einigten sie sich auf fünfzigtausend Pfund, eine Hälfte als Anzahlung, die andere nach Verkauf des vierten Steins. Zablonsky verabschiedete sich und kehrte nach London zurück.
Der Haken bei Raoul Levy war nicht etwa, daß er ungeschickt gewesen wäre; aber er war einsam. Die ganze Woche über freute er sich schon auf seine einzige Abwechslung, die Bahnfahrt nach Antwerpen, wo er am Abend das Stamm Café seiner Freunde aus der Branche aufsuchte, und mit ihnen fachsimpelte. Drei Tage nach Zablonskys Besuch ging Levy wieder in das Café und fachsimpelte einmal zu
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