Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das vierte Protokoll

Das vierte Protokoll

Titel: Das vierte Protokoll Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frederick Forsyth
Vom Netzwerk:
gut geheizt war - alte Leute frieren leicht -, aber erstaunlich einfach möbliert.
    Im Gegensatz zu Leonid Breschnew, der viel für Schnörkel, Schwulst und Luxus übrig hatte, galt der Generalsekretär, was seinen privaten Geschmack anging, als Asket. Das Mobiliar aus schwedischer oder finnischer Fichte war spärlich, nüchtern und funktionell. Keine Antiquitäten, wenn man von zwei eindeutig unschätzbaren Bucharas absah. Um einen niedrigen Tisch waren vier Stühle gruppiert, der Platz für einen fünften Stuhl war freigelassen. Im Zimmer standen bereits - niemand würde sich ohne Erlaubnis gesetzt haben - drei Männer. Philby kannte sie alle, und sie nickten ihm grüßend zu.
    Der eine war Professor Wladimir Iljitsch Krilow, der an der Moskauer Universität Zeitgeschichte lehrte. Er war - und darin lag sein eigentlicher Wert - ein wandelndes Lexikon auf dem Gebiet der sozialistischen und kommunistischen Parteien Westeuropas, im besonderen Englands. Mehr noch, er gehörte dem Obersten Sowjet an, diesem aus lauter Jasagern bestehenden Einparteienparlament der UdSSR, ferner der Akademie der Wissenschaften, und betätigte sich häufig als Berater der internationalen Abteilung des Zentralkomitees, dessen Leiter der Generalsekretär früher gewesen war. Der Mann, dem man trotz seiner Zivilkleidung den Militär ansah, war General Pyotr Sergeiwitsch Martschenko. Philby kannte ihn nur flüchtig, wußte aber, daß er ein hoher Offizier in der GRU war, dem Geheimdienst der sowjetischen Streitkräfte. Martschenko war Fachmann in den Techniken zur Aufrechterhaltung der inneren Sicherheit, aber auch Destabilisierungsexperte. Sein Interesse hatte von jeher vor allem den Demokratien Westeuropas gegolten, deren Polizei und Verfassungsschutz er sein halbes Leben lang studiert hatte.
    Der dritte war Dr. Josef Viktorowitsch Rogow, gleichfalls Mitglied der Akademie und seines Zeichens Physiker. Seinen Ruhm verdankte er jedoch einem anderen Titel, dem eines Schachgroßmeisters. Man wußte, daß er einer der wenigen persönlichen Freunde des Generalsekretärs war, ein Mann, den der Sowjetführer in der Vergangenheit mehrmals zugezogen hatte, wenn ihm dessen phantastisches Gehirn bei der Planung gewisser Operationen als unerläßliche Hilfe erschienen war.
    Die vier Männer hatten zwei Minuten gewartet, als sich die Doppeltüren am Ende des Zimmers öffneten und der absolute Herrscher über Sowjetrußland, seine Satelliten und Kolonien erschien.
    Er saß im Rollstuhl, der von einem Diener in weißer Jacke hereingeschoben wurde. Der Stuhl wurde an den freigebliebenen Platz gerollt.
    »Bitte Platz zu nehmen«, sagte der Generalsekretär.
    Philby war überrascht, wie sehr der Mann sich verändert hatte. Gesicht und Handrücken des Fünfundsiebzigjährigen waren mit braunen Altersflecken gesprenkelt. Die Operation am offenen Herzen, die 1985 durchgeführt worden war, schien erfolgreich gewesen zu sein, und der Schrittmacher arbeitete offenbar tadellos. Und doch wirkte der Mann gebrechlich. Das dichte, glänzende weiße Haar, das ihm auf den Plakaten zum Maifeiertag das Aussehen eines gütigen Hausarztes verlieh, war fast verschwunden. Um beide Augen zogen sich braune Ringe.
    Zwei Kilometer vom Kutuzowskij-Prospekt entfernt, in der Nähe des alten Dorfes Kuntsewo, stand auf einem riesigen Areal inmitten eines Birkenwaldes, umzäunt von einer zwei Meter hohen Palisade, das ausschließlich den Mitgliedern des Zentralkomitees vorbehaltene Krankenhaus. Es war der erweiterte und modernisierte Bau der alten Klinik von Kuntsewo. Auf dem Gelände des Krankenhauses stand Stalins ehemalige Datscha, das überraschend bescheidene Landhaus, in dem der Diktator einen so großen Teil seiner Zeit verbracht hatte und in dem er schließlich gestorben war. Diese Datscha hatte man in die modernste Intensivstation im ganzen Land verwandelt, nur um des Mannes willen, der jetzt in seinem Rollstuhl saß und jeden einzelnen musterte.
    In der Datscha von Kuntsewo standen sechs Top-Spezialisten ständig zur Verfügung, und zu ihnen begab sich der Generalsekretär jede Woche zur Behandlung. Sie hielten ihn am Leben, wie man sah - doch nur mit knapper Not.
    Aber noch funktionierte das Gehirn hinter den eiskalten Augen, die durch die goldgefaßte Brille blickten. Der Generalsekretär blinzelte selten, und wenn, dann so langsam wie ein Raubvogel.
    Er verschwendete keine Zeit mit Vorreden. Das tat er nie, wie Philby wußte. Er nickte den drei anderen Männern zu und

Weitere Kostenlose Bücher