Das vierte Protokoll
Sommer.
Sie vergatterte ihre Kollegen zu strengstem Stillschweigen; das Datum, das ihr vorschwebte, war der 18. Juni, der vorletzte Donnerstag in diesem Monat.
Am Montag hatte Sir Nigel Irvine seinen Treff mit Andrejew. Die Begegnung fand unter äußerster Geheimhaltung in der Hampstead Heath statt. Irvines Leute waren über die ganze Heide gestaffelt, um zu kontrollieren, ob Andrejew nicht von den Abwehrknilchen der sowjetischen Botschaft beschattet wurde. Doch der russische Diplomat war »sauber«. Seine englischen Beschatter waren abgezogen worden.
Nigel Irvine betreute Andrejew als »Direktorenfall«. Direktorenfälle sind selten, denn so hochstehende Männer wie die Chefs einer Dienststelle, ganz gleich welcher, »führen« normalerweise keine Agenten. Sie tun es nur dann, wenn der Agent außergewöhnlich wichtig ist. Oder wenn die Anwerbung stattfand, bevor der Agentenführer Direktor seiner Dienststelle wurde, und der Agent sich weigert, von irgend jemand anderem betreut zu werden. Und genau so lagen die Dinge bei Andrejew.
Im Februar 1972 war Sir Nigel Irvine, damals schlicht Mr. Irvine, Resident in Tokio gewesen. Die japanischen Antiterrorleute hatten in jenem Monat beschlossen, das Hauptquartier der fanatischen ultralinken Roten-Armee-Fraktion auszuheben, das sich in einer Villa auf den schneebedeckten Hängen des Orakine befand, in einem Ort namens Asamaso. Verrichtet wurde die Arbeit von der Landespolizei, allerdings unter dem Kommando des gefürchteten Antiterrorchefs Sassa, eines Freundes von Irvine.
Aufgrund der Erfahrungen, die Englands Eliteeinheiten der SAS gesammelt hatten, konnte Irvine Herrn Sassa einige nützliche Ratschläge geben und eine Anzahl japanischer Leben retten. Wegen der strikten Neutralität seines Landes war Herr Sassa nicht in der Lage, Irvine seine Dankbarkeit in handfester Form zu beweisen.
Doch einen Monat später wechselte der brillante und subtile Japaner auf einer Cocktailparty des diplomatischen Corps mit Irvine einen Blick und nickte in Richtung auf einen russischen Diplomaten am anderen Ende des Raums. Dann lächelte er und ging. Irvine schlenderte zu dem Russen hinüber und erfuhr, daß er Andrejew hieß und erst vor kurzem in Tokio angekommen war.
Irvine ließ den Mann beschatten und entdeckte, daß der Russe so töricht gewesen war, sich auf ein heimliches Verhältnis mit einer jungen Japanerin einzulassen, eine Freveltat, die ihm seine Leute nicht verzeihen würden. Natürlich wußten die Japaner bereits davon, denn jeder Sowjetdiplomat in Tokio wird unauffällig beschattet, wann immer er die Botschaft verläßt.
Irvine stellte eine Gimpelfalle auf, verschaffte sich die nötigen Fotos und Bandaufnahmen und brach in Hauruckmanier in das Liebesnest ein. Der Russe fiel beinahe in Ohnmacht, da er glaubte, es handele sich um jemanden von seinen eigenen Leuten. Als er die Hosen anzog, war er bereit, Irvine gegenüber auszupacken. Er war ein kapitaler Fang. Vom KGB-Direktorat der Illegalen, genauer gesagt, ein N-Mann.
Das Erste Hauptdirektorat des KGB, das für alle Überseeaktivitäten zuständig ist, zerfällt in Direktorate, Sonderabteilungen und Normalabteilungen. Gewöhnliche KGB- Agenten mit Diplomatenstatus kommen von einer der »territorialen« Abteilungen - die Siebente Abteilung ist auf Japan spezialisiert. Auf Auslandsposten gelten diese Diplomaten als PR-Leute. Ihre Aufgabe besteht im Sammeln von Feld- Wald-und-Wiesen-Informationen, im Herstellen von nützlichen Kontakten, im Lesen von technischen Fachzeitschriften usw. Den innersten und geheimsten Kern des Ersten Hauptdirektorats bildet das Direktorat Illegale, auch Direktorat S genannt, das keine territorialen Grenzen kennt. Die Leute von »Illegale« drillen und führen die »illegalen« Agenten, die keinerlei diplomatische Immunität genießen, sondern als Maulwürfe im Untergrund arbeiten mit gefälschten Papieren und in geheimer Mission. Die »Illegalen« operieren außerhalb der Botschaft.
Trotzdem sitzt in jeder KGB-Rezidentura einer jeden Sowjetbotschaft ein Mann vom Direktorat S, auf Überseeposten unter der Bezeichnung N-Mann bekannt. Diese Leute befassen sich nur mit Sonderaufträgen, führen oft einheimische Spione oder leisten technische Hilfestellung für Maulwürfe aus dem Sowjetblock.
Andrejew war vom Direktorat S. Merkwürdigerweise war er kein Japanexperte wie alle seine Kollegen von der Siebenten Abteilung. Er war Fachmann für Englisch und nach Tokio beordert worden, um den Kontakt
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