Das vierte Protokoll
den Dachboden und brachte alles herunter. Unter einem Stapel vergilbter Schulberichte lag das Familienalbum der Marais'. Preston blätterte es langsam durch. Es war alles da: die zarte hübsche Braut aus dem Jahr 1920, die schüchtern lächelnde Mutter von 1930, der Junge, der mit konzentrierter Miene auf seinem ersten Pony ritt, der Vater, Pfeife zwischen den Zähnen, der versuchte, sich den Stolz auf seinen Sohn, der neben ihm stand, nicht allzu sehr anmerken zu lassen, vor den beiden eine Strecke Kaninchen auf dem Gras.
Auf der letzten Seite klebte das Schwarzweißfoto eines Jungen in Krickethosen, eines hübschen Burschen von siebzehn Jahren, der zum Wurf gegen den Dreistab ausholte. Die Unterschrift lautete: »Janni, Kapitän der Kricketmannschaft von Merensky, 1943.«
»Darf ich dieses Bild behalten?« fragte Preston.
»Gern«, sagte Mrs. Winter.
»Hat Ihr verstorbener Bruder jemals mit Ihnen über Mr. Marais gesprochen?«
»Manchmal«, sagte sie. »Die beiden waren viele Jahre lang eng befreundet.«
»Hat Ihr Bruder Ihnen erzählt, woran Mr. Marais starb?«
Sie war erstaunt.
»Hat Ihnen das der Anwalt denn nicht gesagt? Ts, ts, ts.
Der alte Cedric muß nicht mehr ganz beisammen sein. Es war ein Unfall mit Fahrerflucht, sagte mir Joop. Der alte Marais war offenbar aus seinem Auto gestiegen, um einen geplatzten Reifen zu reparieren, und wurde von einem Lastwagen erfaßt. Damals nahm man an, daß es betrunkene Kaffern waren - hoppla!« - sie schlug die Hand auf den Mund und blickte Viljoen verlegen an. »Ich sollte das wirklich nicht mehr sagen. Also, wie dem auch sei, es kam niemals heraus, wer den Lastwagen gefahren hat.«
Auf dem Weg hügelabwärts zur Hauptstraße kamen sie am Friedhof vorbei. Preston bat Viljoen, er möge anhalten. Es war ein schönes stilles Fleckchen hoch über der Stadt, von Tannen und Fichten gesäumt, überragt von einem in der Mitte stehenden alten M'wateba-Baum mit gespaltenem Stamm und umzogen von einer Hecke aus Weihnachtssternen. In einer Ecke entdeckten die Männer einen bemoosten Stein. Preston kratzte das Moos ab und fand in den Granit gemeißelt die Inschrift: »Laurens Marais, 1879-1946. Geliebter Gatte von Mary und Vater von Jan Marais. Der Herr sei mit ihm. R. I. P.«
Preston ging hinüber zur Hecke, brach einen flammenden Blütenzweig ab und legte ihn vor den Stein. Viljoen sah ihn erstaunt an.
»Pretoria, bitte«, sagte Preston.
Als sie aus dem Mootseki-Tal zum Buffelberg hinanklommen, drehte Preston sich um und warf einen Blick zurück über das Tal. Dunkelgraue Gewitterwolken hatten sich hinter der Teufelskluft zusammengeballt. Sie kamen rasch näher und verhüllten die kleine Stadt samt dem makabren Geheimnis, das nur einem Engländer mittleren Alters in einem abfahrenden Auto bekannt war. Preston legte den Kopf zurück und schlief ein.
An diesem Abend wurde Harold Philby aus dem Gästetrakt in das Wohnzimmer des Generalsekretärs geleitet, der ihn bereits erwartete. Philby legte dem alten Mann mehrere Dokumente vor. Der Generalsekretär las sie und ließ sie dann sinken.
»Es sind nicht viele Leute beteiligt«, sagte er.
»Erlauben Sie, daß ich auf zwei wichtige Punkte hinweise, Genosse Generalsekretär. Erstens hielt ich es wegen der extremen Vertraulichkeit von Plan Aurora für angezeigt, die Zahl der Teilnehmer auf das absolute Minimum zu beschränken, und selbst von diesen wenigen werden nicht alle über alles informiert sein.
Zweitens müssen, obgleich dies widersprüchlich erscheint, wegen der extrem kurz bemessenen Zeit noch ein paar Ecken gekappt werden. Die wochen- oder sogar monatelangen Besprechungen, die gewöhnlich zur Vorbereitung einer aktiven Maßnahme nötig sind, müssen auf Tage zusammengeschoben werden.«
Der Generalsekretär nickte bedächtig.
»Erklären Sie, warum Sie diese Männer brauchen.«
»Schlüsselfigur der ganzen Operation«, fuhr Philby fort, »ist der Ausführende, der Mann, der nach England geht, dort eine Zeitlang als Brite lebt und schließlich Plan Aurora durchführt.
Zwölf Kuriere oder >Mulis< werden ihn mit allem versorgen, was er braucht. Sie müssen die Objekte ins Land schmuggeln, entweder durch den Zoll oder, wo möglich, an einer unbewachten Stelle. Keiner der Kuriere wird wissen, was er befördert oder warum; jeder hat Zeit und Ort eines Treffs und eines unter Umständen notwendigen Ausweichtreffs auswendig gelernt. Jeder wird sein Päckchen dem Ausführenden übergeben und dann hierher zurückkehren,
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