Das vierte Protokoll
war Reservist, und die Dienstzeiten in der Armee wurden immer länger. Als James Ross 1976 bei der rhodesischen leichten Infanterie kämpfte, geriet er im tiefen Busch des südlichen Sambesi-Ufers in einen Hinterhalt der ZIPRA und wurde getötet. Die Guerillas raubten dem Toten Waffen und Uniform und zogen sich wieder in ihre Lager in Sambia zurück.
Er hätte eigentlich keinerlei Hinweise auf seine Person bei sich tragen dürfen, aber kurz bevor sein Spähtrupp aufgebrochen war, hatte er einen Brief seiner Freundin erhalten und in die Tasche seines Kampfanzuges gesteckt. Dieser Brief fiel dem KGB in die Hände.
Ein sehr hoher KGB-Offizier namens Wassilij Solodownikow war damals Botschafter in Lusaka und führte verschiedene Agentennetze in ganz Südafrika. Eines von ihnen schnappte sich den an James Ross gerichteten und mit der Adresse seiner Eltern versehenen Brief. Die ersten Nachforschungen nach der Person des toten jungen Offiziers brachten ein positives Ergebnis: Als gebürtige Briten hatten Angus Ross und sein Sohn James ihre britischen Pässe behalten. Also erweckte der KGB James Duncan Ross zu neuem Leben.
Als Rhodesien unter dem Namen Zimbabwe unabhängig wurde, übersiedelten Angus und Kirstie Ross in die Republik Südafrika, während James scheinbar beschloß, nach England zurückzukehren. Geisterhände fischten eine Kopie seiner Geburtsurkunde aus dem Somerset House in London; andere Hände füllten den Antrag für einen neuen Paß aus und schickten ihn mit der Post an die zuständige Stelle. Der Antrag wurde geprüft und der Paß ausgestellt.
Zum Aufbau einer guten Legende werden Dutzende von Leuten und Tausende von Arbeitsstunden benötigt. Dem KGB hat es noch nie an Personal oder an Geduld gefehlt. Bankkonten werden eröffnet und aufgelöst; Führerscheine umsichtig erneuert; Wagen gekauft und verkauft, so daß der Name im Computer der Zulassungsstelle erscheint. Stellungen werden angetreten und Beförderungen verdient; Zeugnisse werden ausgestellt und Ansprüche auf Firmenpensionen erworben. Einer der zahlreichen unteren Chargen des Geheimdienstes obliegt es, alle diese Unterlagen auf dem laufenden zu halten.
Andere Teams gehen zurück in die Vergangenheit. Wie war der Kosename des Kindes? Wo ging der Junge zur Schule? Wie nannten die Schüler ihren Biolehrer hinter dessen Rücken? Wie hieß der Hund, den die Familie damals hielt?
Wenn die Legende einmal vollständig ist - und das kann Jahre dauern - und wenn ihr neuer Träger sie intus hat, dann würde sie erst nach wochenlangen Ermittlungen zu knacken sein - wenn überhaupt. Das also trug Petrofski in Kopf und Reisetasche. Er war - und konnte es beweisen - James Ross, der vom Westen des Landes herüberkam, um in East Anglia die Vertretung einer Schweizer Firma für Computer-Software zu übernehmen. Er hatte ein nettes Konto bei der Barclay's Bank in Dorchester, Dorset, das er jetzt ins nahe Colchester überschreiben lassen wollte. Die kritzelige Unterschrift von James Ross konnte er vollendet nachahmen.
Britannien ist ein sehr privates Land. Die britischen Bürger sind nahezu die einzigen auf der Welt, die keine Ausweispapiere bei sich tragen müssen. Gegebenenfalls genügt meist das Vorzeigen eines an den Betreffenden adressierten Briefs, als könne das irgend etwas beweisen. Ein Führerschein ist, obwohl britische Führerscheine keine Fotos tragen, absolut beweiskräftig. Man geht davon aus, daß ein Mensch derjenige ist, als den er sich ausgibt.
Valeri Alexeiwitsch Petrofski war, als er nun in Ipswich zu Abend aß, völlig überzeugt, und dies mit Recht, daß niemand seine Identität als James Duncan Ross anzweifeln werde. Nach dem Abendessen ließ er sich am Empfang das gelbe BranchenTelefonbuch geben und schlug die Sparte Immobilien auf.
4. Kapitel
Während Major Petrofski im Great White Horse in Ipswich sein Abendessen einnahm, läutete in einer Wohnung im achten Stockwerk von Fontenoy House die Türklingel. Der Wohnungsinhaber, Mr. George Berenson, öffnete. Eine Sekunde lang starrte er überrascht auf die Gestalt im Korridor.
»Mein Gott, Sir Nigel...«
Sie kannten einander, nicht weil sie jahrelang dieselbe Schule besucht, sondern weil sich ihre Pfade gelegentlich in Whitehall gekreuzt hatten. Der Chef des SIS nickte höflich, aber förmlich.
»Abend, Berenson, darf ich reinkommen?«
»Natürlich, natürlich, aber selbstverständlich... «
George Berenson war nervös, obwohl er keine Ahnung vom Zweck des Besuches
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