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Das vierte Protokoll

Das vierte Protokoll

Titel: Das vierte Protokoll Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frederick Forsyth
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weiter zum MWD, aber nur, weil er sich an die Rockschöße des Generalsekretärs geheftet hatte. Fedortschuk war nie beim EHD gewesen und nur selten aus der Sowjetunion herausgekommen; er hatte Punkte gesammelt mit der Niederschlagung von Dissidenten- oder Nationalistenbewegungen.
    Für einen Mann jedoch, der seinem Land viele Jahre im Ausland gedient hatte - in Rußland immer ein Nachteil bei der Berufung in die höchsten Ämter -, war Karpow nicht schlecht gefahren. Schließlich hatte es der schlanke Mann in dem erstklassigen Schneideranzug - gute Kleidung war eines der
    Vorrechte der EHD-Leute - bis zum Generalleutnant und ersten stellvertretenden Leiter des Ersten Hauptdirektorats gebracht. Er war damit der höchstrangige Berufsnachrichtenoffizier im Auslandsnachrichtendienst, das Pendant zum stellvertretenden Direktor der CIA oder zu Sir Nigel Irvine vom SIS.
    Als der Generalsekretär bei seinem Machtantritt vor etlichen Jahren Fedortschuk vom Vorsitzenden des KGB zum Chef des Innenministeriums befördert hatte und General Schebrikow auf Fedortschuks Posten nachrückte, war dessen Stelle frei geworden; Schebrikow war einer der beiden ersten stellvertretenden Vorsitzenden gewesen.
    Der vakante Posten war Generaloberst Kryutschow angeboten worden, der sofort zupackte. Doch Kryutschow war damals Leiter des EHD, und diese Machtstellung wollte er nicht aufgeben. Er wollte beide Posten behalten. Aber selbst Kryutschow, den Karpow insgeheim für komplett vernagelt hielt, mußte einsehen, daß er nicht an zwei Orten zugleich sein konnte, in der Zentrale am Dserschinkij-Platz als erster stellvertretender Vorsitzender und in Jasjenewo als Chef des EHD.
    Der Posten des ersten stellvertretenden Leiters des EHD hatte im Laufe der Jahre immer mehr an Bedeutung gewonnen. Er erforderte eine umfangreiche operative Erfahrung und stellte im EHD die höchste Stufe dar, die ein Berufsoffizier erklimmen konnte. Und er war noch wichtiger geworden, nachdem Kryutschow das »Dorf«, wie Jasjenewo im KGB-Jargon genannt wurde, verlassen hatte.
    Als der amtierende Chef, General B. S. Iwanow, in Pension ging, gab es zwei mögliche Anwärter auf den Posten: Karpow, damals ein bißchen jung, doch bereits Leiter der wichtigen Dritten Abteilung, Raum 6013, die für England, Australien, Neuseeland und Skandinavien zuständig war; und Wadim Wassiljewitsch Kirpitschenko, sehr viel älter, etwas höher im Rang, Leiter des Direktorats S für Illegale. Kirpitschenko bekam den Posten.
    Karpow erhielt als Trostpreis die Leitung des mächtigen Illegalen-Direktorats, einen Posten, den er zwei faszinierende Jahre lang innehatte.
    Dann, im Frühjahr 1985, hatte Kirpitschenko das einzig Richtige getan; als er die Sadawaja-Spasskaja-Ringstraße mit fast hundert entlangspurtete, war sein Wagen auf einem von einem lecken Laster stammenden Ölfleck ins Schleudern gekommen. Eine Woche darauf hatte die Beerdigung in aller Stille auf dem Friedhof Nowodewitschij stattgefunden, und eine weitere Woche später hatte Karpow, bei gleichzeitiger Beförderung vom Generalmajor zum Generalleutnant, den Posten bekommen.
    Zu seiner großen Befriedigung konnte er das IllegalenDirektorat dem alten Borisow übergeben, der so lange die Nummer zwei gewesen war und die Stelle ohnehin verdient hatte.
    Das Telefon auf Karpows Schreibtisch klingelte, und er hob den Hörer ab.
    »Genosse Generalmajor Pawel Petrowitsch Borisow möchte Sie sprechen.«
    Wenn man vom Teufel spricht, dachte er. Dann runzelte er die Stirn. Er hatte eine Hausleitung, die nicht über die Vermittlung ging, und sein alter Kollege hatte sie nicht benützt. Rief wohl von außerhalb über Amt an. Er befahl seiner Sekretärin, den Kopenhagener Kurier nach seiner Ankunft sofort zu ihm zu bringen, drückte auf die Amtsleitungstaste und nahm Borisows Anruf entgegen.
    »Pawel Petrowitsch, wie geht's Ihnen an diesem schönen Tag?«
    »Ich hab's bei Ihnen zu Hause versucht, dann in der Datscha. Ludmilla hat mir gesagt, Sie würden arbeiten.«
    »Genauso ist es. Ein paar Leute müssen ja was tun.«
    Karpow nahm den alten Mann sanft auf den Arm. Borisow war Witwer, lebte allein und arbeitete an Wochenenden wahrscheinlich öfter als sonst jemand.
    »Jewgenij Sergeiwitsch, ich muß Sie unbedingt sehen.«
    »Natürlich. Jederzeit. Wollen Sie morgen hierher kommen, oder soll ich in die Stadt fahren?«
    »Könnten Sie's heute ermöglichen?«
    Immer merkwürdiger, dachte Karpow. Irgend etwas muß in den alten Knaben gefahren sein.

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