Das vierte Skalpell
und
wartete. Unter mir, in der Heizung, wendete der Aufzug. Mit Gewalt zwang ich
mich, zum linken Schacht hinzusehen.
Langsam stieg die Kabine, die Steimles
Totenkammer geworden war, aus der Erde. Als sie meine Höhe erreicht hatte,
drückte ich den Knopf. Der Aufzug stand.
Ich hörte nichts mehr als das harte
Klopfen des Pulses in meinen Ohren. Meine Augen tasteten über seinen Körper,
und eine hilflose Traurigkeit überkam mich.
Ihn hatte ich für den Mörder gehalten.
Ihm hatte ich alles Schlechte zugetraut, aus Eifersucht und aus Wut. Und jetzt
war er das nächste Opfer des unheimlichen Todes geworden, der zwischen uns
umging. Ich bat ihn stumm um Verzeihung, solange ich noch allein war.
Von der Treppe näherten sich hastige
Schritte. Ich sah bleiche, aufgeregte, fragende Gesichter. Ein schweigender
Halbkreis bildete sich um den Aufzugsschacht wie eine Totenwache.
Als ich mich umsah, erkannte ich den
Hausinspektor. Auf seiner Stirn standen feine Schweißperlen, und sein
bierfrisches Gesicht war bleich.
»Sorgen Sie dafür, daß nichts angefaßt
wird«, sagte ich mit rauher, trockener Stimme. »Ich rufe Kommissar Nogees an.«
Er nickte, ohne ein Wort zu sprechen.
*
Evelyn saß im Archiv, wie ich sie
verlassen hatte. Als ich näher kam, hob sie den Kopf. Die Tränen hatten feine
Streifen über ihre Augen gezogen, aber sie weinte nicht mehr. »Er ist tot«,
sagte ich.
Nogees’ Nummer wußte ich inzwischen
auswendig. Er war nicht mehr im Präsidium. Sie gaben mir die Nummer seiner
Wohnung. Mir wurde um fünfzig Prozent besser, als ich seine Stimme hörte.
Ich nannte meinen Namen und führte das
kürzeste Telefongespräch meines Lebens.
»Herr Kommissar«, sagte ich. »Wieder
einer. Oberarzt Steimle. Im Paternoster.«
»Skalpell?« fragte er.
»Ja.«
»Niemanden ranlassen«, sagte er und
hängte ab.
Evelyn sah mich fragend an.
»Wir müssen warten, bis er kommt«,
sagte ich. »Ruh dich ein bißchen aus.«
Ich ging hinaus zu den anderen. Sie
standen, wie ich sie verlassen hatte. Erst jetzt kam ich dazu, sie mir
anzusehen.
Bolerus war da und ein Arzt von der
Inneren, beide in Mantel und Hut. Der Hausinspektor, der jetzt den Toten
bewachte und grimmig auszusehen versuchte. Ein junger Pfleger und eine
Schwester. Wohl die, deren Schrei ich gehört hatte. Sie hatte wässrige Augen
und rang fortwährend die Hände unter ihrer Schürze.
Fünf Menschen. War der Mörder unter
ihnen?
Ich atmete auf, als Nogees auf dem Gang
erschien. Breitschultrige Männer mit harten Gesichtern waren bei ihm. Später
erfuhr ich, daß zur gleichen Zeit alle Ausgänge des Hauses besetzt worden
waren. Hätte er nur eher so viel Polizisten mitgebracht, dachte ich müde.
Er musterte uns alle, kurz und
eindringlich. Dann sah er sich den Toten im Aufzug an.
Auch nicht einfach für ihn, dachte ich.
Drei Morde und keine Lösung. Während er den zweiten bearbeitet, geschieht der
dritte, fast an der gleichen Stelle. Wird ein schönes Theater in den Zeitungen
geben.
Nogees richtete sich auf.
»Wer hat ihn gefunden?«
Weil niemand antwortete, tat ich es.
»Wahrscheinlich meine Assistentin — Fräulein
Jacobs.«
»Wahrscheinlich?«
»Mehrere Leute müssen ihn kurz
hintereinander gesehen haben«, sagte ich. »Er fuhr ja durch die Stockwerke. Als
ich ihn sah, drückte ich auf den Halteknopf.«
»Wer von Ihnen hat ihn noch gesehen?«
Die Schwester und der junge Pfleger.
Sonst meldete sich niemand.
Nogees’ Handbewegung umfaßte die
anderen. »Und Sie?«
Die Iltisaugen von Bolerus gingen
unruhig umher.
»Wir wollten gerade gehen«, sagte er.
»Kollege Wilkens und ich — wir waren auf dem Flur —, da hörten wir Schwester
Eugenia schreien und liefen hin.«
»Hm. Sie?«
Der Hausinspektor war von der Schwester
geholt worden. Er wollte eine lange Geschichte erzählen, aber Nogees schnitt
ihm das Wort ab.
»Jeder von Ihnen geht dorthin, wo er
gewesen ist, bevor er hier herunterkam. Niemand verläßt das Haus.«
Stumm fügten sich alle.
»Wo ist Fräulein Jacobs?« fragte
Nogees.
Ich deutete auf die Tür zum Archiv.
»Dort drin. Sie hat sich sehr erschreckt.«
»Kommen Sie mit.«
Er sprach noch kurz mit einem seiner
Leute. Dann gingen wir zu Evelyn.
Sie sah jetzt besser aus. Die
Tränenspuren waren weg, und ihre Haut hatte wieder Farbe. Nogees zog sich einen
Stuhl heran.
»Können Sie erzählen?«
»Ja.«
»Dann los.«
Sie hatte auf mich gewartet. Nach
einiger Zeit war sie rausgegangen, um sich die Hände zu
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