Das Volk der Ewigkeit kennt keine Angst: Roman (German Edition)
Magazin aus seinem Gewehr und überprüfe, ob es auch leer ist.
»Steh auf«, brülle ich. »Nimm die Ohrstöpsel raus.«
Die zwei Treffer müssen von den ersten beiden Schüssen stammen, da bin ich sicher. Danach hat er die Position immer weiter verändert.
Ich richte das Gewehr gen Himmel und nah an Boris’ Ohr. Er hat kleine gelbe Krümel im Ohr, und dafür liebe ich ihn. Liebe ich ihn noch mehr.
Ich drücke den Abzug und halte ihn. Eine Sekunde, zwei Sekunden, drei.
Klong.
»Ich will, dass du nach jedem Schuss bis drei zählst. Ich will, dass du jedes Mal dieses Geräusch hörst, das Geräusch von einer Patrone, die in die Kammer gedrückt wird.«
»Wozu ist es wichtig, was ich nach einem Schuss mache?«, fragt Boris.
Es ist wichtig, um sein Gehirn auszutricksen. Wenn er weiß, dass er nach jedem Schuss warten muss, ist es nicht so wahrscheinlich, dass er den Abzug zurückschnellen lässt und die Haltung verliert. Aber das sage ich ihm nicht. Mittlerweile weiß ich, dass Leute nur das wissen müssen, was sie wissen müssen, um gut zu sein.
»Es ist wichtig, weil ich es sage, und du hast zu tun, was man dir sagt.«
Diesmal trifft er vier von fünf, drei ins Herz und einmal an den Rand vom Kopf.
Während meines Wachdienstes ist es erst nur eine Vorstellung, dann ein Gedanke, bald ein Gefühl, und dann ist es so echt, dass ich es fast vor Augen habe, nur dass ich es nicht sehe; irgendetwas ist schrecklich anders. Fehlt einfach.
Oben auf dem Hügel mit Blick auf den Munitionsbunker angekommen, mache ich die Taschenlampe an und starre auf den vor mir liegenden Stützpunkt. Das Zirpen von Grillen schwillt an und ab. Ich kneife die Augen zusammen, öffne sie dann wieder.
Das ist das Skurrilste und Beeindruckendste, was ich je gesehen habe.
Der Zaun um den Stützpunkt, der beim Munitionsbunker, ist weg. Nicht mehr da. Verschwunden.
Die Jungs. Diese kleinen Teufel. Sie haben ihn geklaut.
Der Metall-Käufer in ihrem Dorf könnte ihn genau in diesem Moment einschmelzen.
Diese Schicht geht, wie alle anderen, acht Stunden, aber die Sekunden, Minuten und Stunden gleiten vorbei wie ein Kind auf einem Schlitten. Ich denke weder an meinen Freund noch an die Natur oder die Zeit, nicht mal an Jungs. Mein einziger Gedanke ist:
Der Zaun.
Der Zaun.
Sie haben. Den Zaun.
Ohne es bewusst zu wollen, ertappe ich mich, wie ich den Gedanken alle paar Minuten laut ausspreche, und dann hallt mein Lachen über Berge, die ich in der Dunkelheit nicht sehen kann.
Nachts, zurück im Container, nach acht Stunden einsamen Lachens und Starrens, rufe ich Moshe an. Ich rufe ihn undercover an, unter einer Militärdecke.
»Du kannst nicht immer nur das machen, was ich dir sage.«
»Aber das hast du doch gesagt«, erwidert er. »Ich dachte, dass du es so willst.«
»Ja«, sage ich. »Genau.«
»Ich weiß nicht mehr, was du willst«, sagt er. »Warum muss alles, was wir sagen, verschlüsselt sein?«
Damals, da war er vierzehn und ich zwölf. Damals, da hatte ich Angst. Er nicht. Er kletterte hoch bis in die Krone des Apfelbaums von der deutschen Witwe, und ein Schauer roter Äpfel ging auf mich nieder, so schnell und heftig geworfen, dass ich glaubte, ich würde ertrinken. Seine schiefen Zähne waren das Einzige, was ich in den obersten Ästen während meiner Ausweichbewegungen sehen konnte, und alles, was ich hörte, war: »Und den hier noch, und den, und den, und den, und den, und den.«
»Hör auf damit«, rief ich zu ihm hoch.
»Aber das macht Spaß!«, rief er zurück, und als er wieder nach einem Apfel griff, erhaschte ich eine Sekunde lang seinen Blick; eine Sekunde lang sah ich in seinen Augen dieses Wollen, richtiges Wollen, nichts als diese eine Sache, nur das.
»Ich warte darauf, dass du mir sagst, was du willst«, sage ich dann. »Das ist nicht verschlüsselt.«
»Heißt das, wir sind wieder zusammen?«, fragt er.
»Was glaubst du?«, frage ich zurück und warte auf eine Stimme, von der ich noch immer nicht glauben kann, dass sie längst verschwunden ist.
Als ich Boris erkläre, was Situation Null bedeutet, sitze ich auf seinem Rücken.
»Atme ein«, sage ich und spüre, wie seine Lunge sich unter mir ausdehnt. »Und jetzt mach deine Lunge komplett leer.«
Ich erkläre ihm, welche Dinge wir ganz sicher wissen können und welche nicht. Ich erkläre ihm, dass man nicht wissen kann, wie viel Luft in der Lunge ist, wenn man einatmet. Das Einzige, was man herstellen kann, ist die Situation, wo die Lunge komplett
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