Das Volk der Ewigkeit kennt keine Angst: Roman (German Edition)
Gewehr schon.
»Du bist so weit, jetzt kannst du schießen«, sage ich.
Ich stecke fünf Patronen in sein Magazin. Wir schießen vom ebenen Betonboden aus.
Drei von fünf! Ich schwör’s! Zwei ins Bein, aber trotzdem, ich schwör’s!
Nachdem ich die Schützenscheibe überprüft habe, renne ich zurück zum Betonboden und lade sein Magazin noch mal mit fünf Patronen.
»Wie war ich?«, will er wissen.
»Noch mal«, sage ich, so ruhig wie möglich, aber ich kann fast fühlen, wie die Freude von meinen Wangen in seine Augen hinüberwandert.
Bummbummbumm.
»Halt!«
Bumm.
»Halt.« Ich trete ihn.
Vier Jungs sind unter Boris’ Beschuss auf den Schießstand gerobbt. Sie sind dunkel und klein und gewandt, und wie Eidechsen bewegen sie sich schneller und schneller über den Boden und sammeln leere Patronenhülsen in Plastiktüten – schnell, ihre Bewegungen so exakt wie die von Akrobaten.
»Was ist das?«, fragt Boris, der noch auf dem Boden liegt.
»Jungs«, sage ich. »Sie klauen sogar unsere Patronenhülsen.« Patronenhülsen sind nicht mal aus echtem Metall. Selbst in Israel bekommen sie dafür höchstens fünf Schekel pro Kilo. Nicht zu fassen. Das ist genial. Das ist saukomisch.
Ich weiß, ich sollte nicht grinsen, tue es aber, und als ich grinse, muss ich blinzeln; als ich die Augen wieder aufmache, sind die Jungen weg.
»Palästinensische Jungen?«, fragt Boris. »Warum haben wir die einfach laufen lassen?«
»Das sind nur Jungs«, sage ich. »Sie klauen ständig irgendwas von unserem Stützpunkt.«
Boris steht auf und einen Augenblick lang stehen wir sehr dicht beieinander. Ich rieche das Eisen seines Blutes und seine schmutzige Kopfhaut.
»Morgen bringe ich dir was anderes bei«, sage ich. »Geheimtricks.«
Boris drückt den Rücken durch und nickt, wie ein Gentleman, er hält sich so aufrecht, wie er kann, die Nackenmuskeln zittern, erschlafft.
Nachts, zurück im Container, rufe ich vor einer weiteren Acht-Stunden-Schicht Moshe an.
»Wir sind getrennt«, sage ich.
»Also diesmal liegt es nicht an mir«, sagt er.
»Doch«, sage ich. »An dir. Hörst du mir nicht zu?«
»Gut«, sagt er. »Wenn es an mir liegt, dann ist alles gut. Was mich angeht, mache ich mir keine Sorgen. Um dich mache ich mir Sorgen.«
Er ist der einzige Junge, den ich je geküsst habe. Moshe. Ich küsse ihn, seit er sehr jung und ich sogar noch viel jünger war.
Boris und ich gehen dazu über, von sandigem und steinigem, also unebenem Untergrund zu schießen. Bevor wir anfangen, sage ich ihm, er solle mir seine Hand geben. Meine ist rauer. Obwohl wir gleich groß sind, wirkt meine Hand in seiner ein Menschenleben kleiner. Ich nehme seinen rechten Zeigefinger und erkläre ihm:
»Das unterste Drittel deines Fingers nennt man den ›Abgestumpften‹. Der Teil ist nicht empfindsam genug, um den Abzug sauber zu drücken. Der obere Teil deines Fingers wird der ›Sensible‹ genannt. Er ist zu empfindlich, um stabil zu bleiben, wenn du den Abzug drückst.« Mein Atem schickt Nebelschwaden in die kalte Luft. Aus meiner Nase fällt ein winziger Tropfen in unsere Hände, und als ich hochschaue, trifft Boris’ weißes Lächeln meine Augen.
Ich schaue wieder nach unten. »Und der Teil hier«, sage ich und drücke den Mittelteil seines Fingers, »der Teil wird der ›Hammer‹ genannt und damit solltest du den Abzug drücken. Dieser Teil ist perfekt.«
»Ich wusste gar nicht, dass es einen Teil an mir gibt, der perfekt ist«, sagt Boris. Seine Augen haben bei meinen Worten gestrahlt, genau wie Dans, als ich sehr jung war und wir beide an einer Bank in der Jerusalemer Straße standen. Seine Hand gleitet in meine, und ich weiß nicht, ob es an der Kälte liegt oder Absicht ist. Ich zögere.
»Tja«, sage ich. »Jetzt weißt du’s.«
Eine Minute lang stehen wir ganz still da, bis wir beide gleichzeitig unsere Hände wegziehen. Die Hügel von Hebron ragen wie Monster über unseren Köpfen auf, und als ich hochsehe, fühlt sich der Himmel größer an, weiter weg, als wären wir ganz unten auf dem Meeresgrund.
»Hey Boris«, sage ich. »Hast du eine Ahnung, was die Handwerker hinter dem neuen Einkaufszentrum in Jerusalem nageln?«
»Was denn?«
»Deine Mutter«, und dabei trete ich ihm das Bein weg, er fällt zu Boden und ich höre, wie er noch im Fallen lacht. Ein prächtiges Lachen, tief und stürmisch.
Er schießt und trifft zwei von fünf. Ich komme vom Markieren der Schießscheibe zurückgerannt, nehme wortlos das
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