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Das Volk der Ewigkeit kennt keine Angst: Roman (German Edition)

Das Volk der Ewigkeit kennt keine Angst: Roman (German Edition)

Titel: Das Volk der Ewigkeit kennt keine Angst: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Shani Boianjiu
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leer ist. Damit du mit jeder Kugel genau denselben Punkt triffst, musst du vor jedem Schuss die Augen schließen und deine Lunge komplett leer machen. So weißt du, dass du genau zielst, dann bist du wieder da, wo du bei dem vorherigen Schuss warst. Situation Null.
    Während ich rede, hebt sich sein Brustkorb, senkt sich, hebt sich wieder.
    »Junge Lady, ich habe dir nicht erlaubt, wieder einzuatmen«, sage ich.
    Er hält die Luft an, ich brauche nicht mal hinzusehen und weiß, dass man alle seine Zähne sieht, dass er lächelt.
    »Sehe ich vielleicht aus wie ein Mixer?«, frage ich ihn.
    »Nein«, sagt er.
    »Warum wirfst du dann alles in einen Topf?«, frage ich.
    Wir lachen, dann schießt er.
    Zwei von fünf, drei von fünf, drei von fünf, fünf von fünf.
    Er lässt das Ziel nicht aus den Augen. Immer wenn ich von der Schießscheibe zurückgerannt komme, wo ich seine Treffer markiere, geht er wieder in Position.
    »Noch mal«, muss nicht mehr gesagt werden.
    Ich sitze neben ihm und er schießt, bis unsere Haare nach Schießpulver stinken, bis uns die Ohren durch die Ohrstöpsel dröhnen, bis es dunkel wird.
    Schon bald werden seine Schüsse zuverlässig. Eine Anordnung von fünf Sternen rings um das Herz.
    Als wir auf dem Rückweg an den anderen Schießständen vorbeilaufen, frage ich endlich, was ich mir nicht erklären kann:
    »Boris, wie verdammt noch mal bist du durch die Grundausbildung gekommen, ohne schießen zu lernen?«
    Er bleibt stehen, sieht mich an und zuckt mit den breiten Schultern.
    Mit etwas Abstand lege ich ihm die Hand auf die Schulter: »Also, ich bin stolz auf dich.«
    Er ist nur einen Schritt entfernt. Es wäre ganz leicht, einen Schritt auf ihn zuzugehen und ihn zu küssen, aber ich lasse es.
    Er küsst mich, macht einen Schritt zurück und hebt fragend die Arme.
    Ich sehe ihm in die Augen. Seine Augen sind Äpfel für mich, nichts als Äpfel. Ich erdenke und rieche Äpfel, an Moshe denke ich nicht; ich höre nur, was er schreit. »Und den, und den, und den, und den, und den.«
    Und dann Boris. In seinen Augen sehe ich Wollen, Wollen, nichts als diese eine Sache.
    Mich.
    Bevor ich die Uniform ausziehe, nehme ich die Flasche Vanilleöl, die ich Dana weggenommen habe, aus der Tasche und lege sie in den Sand, damit sie nicht kaputtgeht.
    Wir gehen nicht in einen von den Schießständen, um es zu machen. Wir liegen nackt auf dem Sand. Seine Bewegungen sind plump und zögerlich und jung und unerfahren.
    Aber er hat keine Angst.
    Unsere Körper drücken und graben und wühlen sich so sehr in den Sand, dass ich die Flasche Vanilleöl nicht wiederfinde, als alles vorbei ist. Ich habe aber auch nicht lange gesucht.
    Als unsere Uniformen wieder richtig sitzen, sehe ich ihn an und rahme ihn mit dem Sand hinter ihm. Genau so will ich ihn in Erinnerung behalten. Jung, breitschultrig, siegreich, sehr nah und doch ein bisschen fern.
    Ich lege ihm die Hand auf die Schulter, genau wie eben schon.
    Da rennt er plötzlich los, rennt unter das Dach eines Schießstands in unserer Nähe. Ich spüre, wie seine Schulter unter meiner Hand entgleitet, und einen Moment lang lasse ich sie dort, mitten in der Luft.
    Bumm.
    Bumm.
    Bumm.
    Bumm.
    Die Jungs , denke ich. Die Jungs . Boris hat sie erschossen.
    Und mir stockt der Atem.
    Dann renne auch ich los. Ich kann auch rennen.
    »Das sind doch nur Kinder«, schreie ich Boris an und schmeiße ihn zu Boden, und als er auf dem Beton liegt, springe ich über ihn.
    »Wenn man auf einem Stützpunkt Leute ohne Uniform sieht, erschießt man sie«, sagt er. »Das ist Vorschrift, oder etwa nicht?«
    Je größer meine Schritte vorwärts sind, umso leiser wird seine Stimme.
    Man erschießt keine kleinen Jungs. Hat ihm das keiner beigebracht? Hätte ich es ihm beibringen müssen?
    Mein Magen zieht sich zusammen, und vom Auf- und Abhüpfen tut mir die Brust weh. Als ich am Fuß von einem der Hügel ankomme, bleibe ich stehen und höre es: Ein unterdrücktes Lachen, genau unter mir. Den unscheinbaren Laut von einem winzigen Menschen. Ich drücke auf einen der Knöpfe an meiner Uhr, und kleine leuchtende Kreise verteilen sich auf dem Sand.
    Aus dem Augenwinkel entdecke ich in einer Kuhle in der Erde den schönsten Jungen, den ich je gesehen habe. Er sitzt in sich zusammengefaltet wie eine Überraschung, kurz bevor sie entdeckt wird.
    Während ich vortäusche, ihn nicht zu sehen, fallen mir Details an ihm auf.
    »Ist da jemand?«, schreie ich und betrachte ihn genau.
    Mir fällt auf,

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