Das Volk der Ewigkeit kennt keine Angst: Roman (German Edition)
dass seine Haut dunkel ist, die Haare strubbelig und die Arme länger, als sie sein sollten. Mir fällt auf, dass er nur ein paar Jahre jünger ist als ich, zu meinen Füßen, aber weiter weg als alles, was ich je gewollt habe. Wenn Jungs gut drauf sind, gehört ihnen die Welt. Was sie wollen, das wollen sie, also ziehen sie los und holen es sich, ihre Schritte fest, selbstbewusst, prachtvoll, sie sind alle gleich.
Ich stehe da und strecke meine Hände nach vorn, als würde ich tasten, und der Junge glaubt an das Unmögliche – dass ich ihn nämlich noch nicht gesehen habe. Er regt sich nicht, er wartet, dass ich gehe. Er weiß nicht, dass ich da stehe und ihn beobachte, zufrieden, alle meine Erwartungen auf einen Schlag erfüllt.
Die Ellbogen des Jungen werden von Stacheln der Sträucher gepiekt. Als ich aufschaue, sehe ich, wie die Berge mit dem Himmel verschmelzen, als würden sie sich auffressen oder heiraten. Vielleicht hat Boris durch mich die Kraft gehabt, den Jungen zu töten. Ich rieche noch nach Boris, und der kurze Moment, in dem wir den Sand verlegen gemacht haben, schwebt über mir, als müsste er erst noch verblassen. Aber Boris konnte den Jungen nicht umbringen, er hat ihn nicht umgebracht, und jetzt ist der Junge eine Überraschung, meine geheime Überraschung in einer Erdkuhle. Wenn ich könnte, würde ich ihn ewig weiter so anstarren, aber mir bleibt nur der Bruchteil einer Sekunde, in der mir Details an ihm auffallen können, und das nur aus dem Augenwinkel.
Ich kneife die Augen zusammen.
Als ich die Augen wieder aufmache, ist der Junge weg. Ich höre sein unerträgliches Lachen, das über die Berge hallt; ausgetrickst, ausgetrickst, und wie, ich stelle mir das Echo seines kichernden Gesangs vor. Ich atme so tief ein, wie ich kann, und dann rieche ich es, der Hauch eines Dufts von etwas, das eben noch da war, dann aber weggenommen wurde. Vanille.
Er hat mein Fläschchen weggenommen. Dieser Junge. Ich stelle mir sein Erstaunen vor – wofür braucht man das? , wird er seine Mutter fragen, während sie auf der Anrichte Zwiebeln schneidet, Zwiebeln, die er für sie gestohlen hat. Und er wird das offene Fläschchen in der Hand halten und da stehen und schnüffeln und eine Minute lang überlegen, bis man ihm an den Augen ansieht, dass er allein den einzigen Grund für Vanille in einem Fläschchen kennt. Nur er wird es wissen, dieser Junge. Ich nicht. Er hat mir die Flasche weggenommen. Er! In der Hoffnung, zu hören, wie er flüchtig das Blattwerk streift, wie die Patronenhülsen in seiner Plastiktüte klimpern, warte ich, bevor ich loslache.
Checkpoint
Ich sagte Nein. Und dass ich müde wäre. Yaniv fragte, ob ich statt Menschen lieber Autos kontrollieren wolle, aber ich sagte Nein. Er sagte, er hätte es satt, sich ständig vorzubeugen. Und dann meinte er, »Lea, wenn du ein Herz hast, dann sagst du Ja und hast Mitleid mit mir, ich habe Probleme mit dem Rücken und der Familie«, aber ich sagte Nein. Nein, und dass er sich sowieso nicht vorbeugen und den Kopf zum Autofenster reinstecken sollte, weil das verboten wäre. Da nannte er mich eine russische Hure, dabei bin ich halb Marokkanerin und halb Deutsche.
Es war vier Uhr morgens und ich konnte nicht sehen, wo die Schlange der palästinensischen Bauarbeiter am Checkpoint Hebron zu Ende war. Hunderte von ihnen standen da und warteten, dass ich und die anderen Soldaten am Checkpoint die metallenen Drehkreuze freigaben und sie durchließen. Dabei durften wir das erst in einer Stunde. Das war Vorschrift. Wir öffneten morgens um fünf. Wir schlossen mittags um zwölf. Das war nicht unsere Entscheidung.
Ich war ein Glückspilz, denn mein erstes und einziges Jahr bei den Soldaten am Checkpoint war eins von den Jahren, in denen die Regierung den Luftraum für philippinische und italienische Zeitarbeiter sperrte und Israel die palästinensischen Bauarbeiter wieder brauchte. Wir brauchten sie, aber wir hatten auch ein bisschen Angst, dass sie uns töten oder, noch schlimmer, für immer bleiben würden. Beides waren Dinge, die die Palästinenser manchmal taten. Darum gab es mich. Ich musste prüfen, ob die Arbeiter eine Genehmigung hatten, die sicherstellte, dass sie nicht zu denen gehörten, die für immer in Israel bleiben oder uns töten wollten. Auf der Genehmigung stand, dass sie nur tagsüber bleiben durften. Dann mussten sie Israel wieder verlassen und in ihre Gebiete zurück. Wenn sie sich an die Vorschriften hielten, bekamen sie uns jeden
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